Dienstag, 28. September 2010

Strategiewechsel

Am 26.09.2010 um 11:12 Uhr war es soweit. Wir wussten uns nicht mehr anders zu helfen. Facebook musste herhalten.
Wir sind seit einer Woche in Chinaute und die magere Ausbeute sind drei Taxifahrer, die nebenberuflich als Zuhälter arbeiten, ein Verwalter einer Finca (Wochenendhaus), der möglicherweise Minderjährige beschaffen kann, eine Finca in der jedes Wochenende Swingerpartys veranstaltet werden. Ob an den Partys unter achtzehn Jährige teilnehmen müssen wir noch herausfinden. Mit Minderjährige selbst haben wir noch nicht gesprochen.
Strategiewechsel. Wir haben den Vorteil mit zwei Teams in Chinauta zu arbeiten. Die Frauen kümmern sich um die Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser, Bürgermeisteramt und Polizei, die Workshops mit Müttern und Schülern und was es sonst noch gibt. Ein Kollege und ich, wir sind Klienten. Immer auf der Suche nach den jungen Mädchen. 15, 16,17 oder vielleicht auch 14 aber bloß nicht älter. Vorher musste das alles ein und das selbe Team erledigen. Die Situation in Chinauta ist anders als alles was wir bis jetzt kennen. Es gibt keinen Dorfkern. Die nächste Stadt ist nur zehn Minuten im Auto entfernt. Hier findet man nicht so schnell Minderjährige in der Straße. Der Grund ist einfach. Weil es nur eine Straße gibt. Wir beide haben also angefangen 10 Stunden am Tag bei Facebook online zu sein. Nach acht Monaten Erfahrung habe ich nur zu oft die Geschichten von den Kindern gehört, die über das Internet ihre Klienten suchen.
Am 26.09. hieß es dann also "Willkommen bei Facebook". Bis 3:00 nachts habe ich Fotos hochgeladen, Freunde gesucht, das Profil von Felix Peters bearbeitet bis es halbwegs echt aussieht.


12 Stunden später habe ich über 80 Freunde, 5 Fotoalben, bin auf 19 Fotos verlinkt und meine Pinnwand ist ausreichend voll mit lauter Einträgen von Leuten aus Deutschland und Kolumbien, Dingen die ich mag und anderen Kleinigkeiten.
Also ging es los. Gruppen von Schulen in Chinauta und Fusa suchen und Jungs und Mädels, die ihre Schule mögen als Freunde hinzufügen. Alle Mitglieder aus Gruppen wie "die Mädchen aus Fusa", "hübsche Mädchen aus Fusa" oder "Bildhübsche Fusanerinnen". So viel wie möglich. Um 6 Uhr abends wird die Euphorie das erste Mal gestoppt. Facebook fängt an mich immer öfter zu fragen ob ich das Mädchen oder den Jungen auch wirklich kenne. Also ein Gang runterschalten und warten. Nach den ersten Angenommenen Freundschafteinladungen fange ich an mit den Leuten zu chatten.

"Hallo, wie geht's?"
"Gut, gut... und dir?"
"Auch. Du bist aus Fusa oder"
"Ja, und du?"
"Oh, ich bin Österreicher... aber zur Zeit in Kolumbien"
"Was machst du hier?"
"Reisen, Spanisch und die Menschen dieses wunderbaren Landes (kennen)lernen"
"Cool... und wo bist du gerade?"
"In Bogotá... ich will bald nach Fusa, da soll es wärmer sein?!"
"Ja, ist viel wärmer als Bogotá"
"Cool... und sind alle Mädchen in Fusa so hübsch wie du ;-)?"
"Hahaha... nicht alle aber die meisten"
"..."
"aber du siehst auch nicht schlecht aus"
"Danke... und was machst du so?"
"Geh noch zur Schule"
"Wie alt bist du denn?"
"sechszehn und du"
"einundzwanzig... entschuldige die Frage: Hast du eigentlich einen Freund?"
"nö"
"jemand so hinreißendes wie du ohne Freund???"
"Hat vor drei Monaten schluss gemacht"
"Scheint nicht zu wissen was er da verpasst ;-)"
"hahaha... muss los, gibt Abendbrot bei mir"
"Okay... wir reden später???!"
"Ja... ciao"
"ciao"
Carolina ist offline 

 Mein Kollege hat das selbe Mädchen als Freundin bei Facebook und schreibt fleissig mit ihr. Weniger an ihrem Äußeren, mehr an ihrer Persönlichkeit interessiert.
Als sie das nächste Mal online ist kann nur er sie sehen und mit ihr schreiben. Für Felix Peters ist sie offline. Anscheinend hat sie ihn in eine Gruppe für ausländische Lustmolche verbannt. Gut für sie. Schlecht für unsere Arbeit.
Also fangen wir an mit der Nächsten zu chatten.

Samstag, 11. September 2010

Freitag, 10.09.2010

Es ist 22:34. Wir sitzen in einer kleinen Bar. Aus den Lautsprecherboxen der Jukebox dringt laute Musik. Was die aufgeregten Stimmen am Nachbartisch sagen ist trotzdem noch zu verstehen. Immer wieder gucken die drei Frauen und deren zwei Begleiter zu uns rüber. Wir fühlen uns ein bisschen unwohl. Etwa wie ein Fünftklässler der beim Abschreiben erwischt wurde.
10 Stunden früher: Die Sonne brennt vom Himmel. Im Haus der Kultur ist es stickend heiß. Ich muss immer wieder an den Pool direkt vor unserem Bungalow denken. Zweiundzwanzig Frauengesichter blicken uns erwartungsvoll an. Die Mütter profitieren von einem staatlichen Programm, das ihnen etwa 140.000 Pesos monatlich zur Unterstützung ihrer Kinder bereitstellt. Es ist zu bemerken wer aus ehrlichem Interesse gekommen ist und wer nur da ist um seine Pflicht zu erfüllen. Wir erklären wer wir sind, woher wir kommen und was wir in Nilo machen.Wie immer beginnen wir mit dem 30 minütigen Video der Fundación. Fünf Geschichten von Minderjährigen, denen das selbe passiert ist wie den geschätzten 35.000 Kindern und Jugendlichen die sich in Kolumbien noch immer in kommerzieller sexueller Ausbeutung befinden. Das Desinteresse, fast schon Abneigung einer der Teilnehmenden bleibt uns nicht verborgen. Nach etwa 25 Workshops dieser Art wissen wir ihre Mimik und Gestik zu deuten. Die junge Frau, nicht älter als dreißig ist mit Sicherheit in irgendeiner Form direkt Betroffene von dem was wir zeigen und zu erklären versuchen.
Sie hat sich mit ihrem Leben so eingerichtet. Sicher nicht freiwillig aber wer einmal daran gewöhnt ist will keine Hilfe. Aus Zeitmangel haben wir es aufgegeben jedem helfen zu wollen.

Etwa 5 Minuten später bezahlen die fünf ihre Rechnung. Eine der Frauen kennen wir von heute Nachmittag. Sie bestätigt mit ihrer Anwesenheit, was wir schon wussten. Die beiden Männer sind offensichtlich Klienten. Kleidung, Körperbau und Verhalten lässt auf Militärs aus der Schule zur Ausbildung professioneller Soldaten schließen. Die anderen beiden kennen wir gut. Maria* und ihre Mutter. In den letzten Wochen hatten wir immer wieder Kontakt mit der 17 Jährigen und ihrem einzigen noch lebenden Elternteil. Bis heute Abend haben die beiden geglaubt wir würden hier Urlaub machen. Sie haben bereitwillig mit uns über alles geredet. Nicht immer die Wahrheit aber zumindest waren sie nicht so verschlossen wie andere. Was ihnen jetzt erzählt wurde war neu für sie.
Keiner aus der Gruppe weiß uns einzuordnen. Es fällt das Wort Polizei. Dass das unrealistisch ist, sollte ihnen nach kurzem Nachdenken klar werden. Kurz darauf verlassen die Männer und deren käufliche Begleiterinnen ihren Tisch. Maria und ihre Mutter gucken stur geradeaus. Keine der beiden winkt uns zum Abschied wie sonst.
Wir bleiben noch etwa eine Stunde sitzen. Es tut sich nichts und wir machen uns auf den Weg zu unserem Bugalow. Das unangenehme Gefühl will nicht verschwinden. Uns war klar, dass wir mit einem Workshop dieser Art mitten im Zentrum Nilos die verdeckten Ermittlungen vollends begraben können. Das es so schnell geht hätten wir nicht gedacht.

*Name von der Redaktion geändert