Samstag, 23. Oktober 2010

Die zweite Ankunft

Als ich das erste Mal nach Bogotá gekommen bin war ich 20 Jahre jung, jemand der keine Ahnung hat was ihn erwartet. Ich bin 23:12 angekommen. In der rechten oberen Ecke meines Handys konnte ich eine kleine 5 vor dem Doppelpunkt erkennen. Ich verstand kein Wort von dem was die Frau am Flughafen von mir wollte. An das was danach geschah kann ich mich kaum noch erinnern. Ich fuhr im Taxi durch eine riesige Stadt. Der Mann neben mir redete Englisch mit einem kolumbianischen Akzent. Wir fuhren lange, passierten große, gut ausgebaute Straßen, entfernten uns immer weiter vom Flughafen. Die Straßen wurden kleiner und enger. Als wir angekommen waren schleppte ich meine beiden Taschen die Treppen hoch, sagte dass ich keinen Hunger hätte und ging schlafen.
Die nächsten Tage verbrachte ich lesend im Park, im Camp für die Neuangekommenen und anschliessend halbtags im Spanischkurs. Die Nachmittage war ich mit anderen Freiwilligen unterwegs. Freiwillig sind wir alle, bis jetzt haben wir ja auch noch nicht eine Stunde gearbeitet.
In den ersten Arbeitswochen schlafe ich viel. Die Luft ist deutlich dünner als gewohnt und das tägliche Lernpensum erledigt den Rest.
Als ich etwa neun Monate später zum zweiten Mal nach Bogotá komme, ist alles anders. Diesmal bin ich 21 Jahre alt. Mein Handy ist ein anderes aber zeigt die gleiche Uhrzeit, wie die der anderen. Ich weiß was mich erwartet.
Ich trage meine beiden Taschen aus dem kleinen Bus, der uns bis zum Hauptgebäude der Fundación gefahren hat und nur fünf Minuten später sitze ich mit den vier Kollegenen, mit denen ich in den letzten drei Monaten gemeinsam ein Team gebildet habe an einem Tisch. Wir warten auf unsere Chefin.
4 1/2 Stunden später verlassen wir das Büro wieder. Diesmal habe ich alles verstanden was gesagt wurde. Die folgenden zwei Wochen verbringe ich nicht lesend im Park oder im Spanischkurs.
Ich bin zehn bis elf Stunden täglich an meinen Stuhl gefesselt. Vor mir, auf dem Bildschirm ist anfangs ein 35 Seiten langes Dokument geöffnet. In den nächsten zwei Wochen sollten zwei Dokumente und insgesamt etwa 70 Seiten dazu kommen. Meine Kollegen und ich schreiben den ganzen Tag. Ich muss immer wieder mein Wörterbuch zu Rate ziehen, bin ein bisschen langsamer als die anderes aber gleiche es aus, indem ich morgens früher komme.
In Melgar, der größten Gemeinde in der ich gearbeitet habe, ist ein riesiger Berg an Informationen zusammengekommen. Über 70 Interviews, Systematisationen von teilnehmenden Beobachtungen in über 20 Bars und Diskotheken, all das, was wir in den Wohnvierteln gesehen haben, 10 Workshops mit Kinder, 5 Workshops mit Müttern, 2 Diskussionsgruppen mit sozialen Aktueren, der politische Rahmen für die Jahre 2008-2011 und und und. Jetzt müssen wir die Informationen miteinander verknüpfen. Systematisieren, reflektieren, kommentieren und anschließend unsere Empfehlungen abgegeben. Das Bürgermeisteramt, die Schulen und das kolumbianische Familienministerium sind gespannt auf die Endfassung. Alles muss perfekt sein.
Ich stehe morgens halb sieben auf und bin um acht im Büro die anderen kommen zwischen neun und zehn. Zwischen 18:30 und 19:00 müssen wir gehen. Die Sekretärin will los und hat den Schlüssel für die Tür. Im Bus nach Hause lese ich mir die Ergebnisse anderer, ähnlicher Untersuchungen durch um vielleicht noch eine Sichtweise oder Schlussfolgerung zu entdecken, die wir bisserher vergessen haben. Abends mache ich kaum etwas. Manchmal telefonieren wir um uns abzusprechen, was noch fehlt. Meist sitze ich einfach vor dem Computer gucke Filme oder bin bei Facebook. Das zweite Profil nutze ich immer noch. Ich schreibe mit einem Franzosen. Reicher alter Mann, der eine Finca in Nilo hat und dort die Mädchen aus Santa Marta manchmal mit hinnimmt. Wenn die Fundación sich sicher ist, dass es sich dabei auch um Minderjährige handelt, wird der Fall an eine Sondereinheit von Interpol weitergereicht. Die ermitteln dann weiter. Nach 22 Jahren verfügt die Fundación über das nötige Netzwerk für solche Aktionen.
Vor etwa zwei Monaten konnte das erste Mal ein wichtiger Erfolg in der Bekämpfung von internationalem Sextourismus in Kolumbien erziehlt werden. In Cartagena wurde ein Italiener zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Fundación Renacer hat den Jungen der überlebte nach dem Vorfall betreut. Die Einzelheiten von der uns die Direktorin erzählte, sind so unangenehm, dass ich sie lieber nicht aufschreiben will.
Im März sollen Projekte in Melgar starten. Die Fundación ist in Gesprächen mit der Europäischen Union und einem der Geldgeber, der auch unsere Arbeit in den letzten drei Monaten mitfinanziert hat. Ich bin gespannt welche Entwicklungen der Sextourismus mit minderjährigen Opfern dort nimmt.
Ach ja, und freiwillig bin ich noch immer, vielleicht gerade weil ich schon mehr als eine Stunde gearbeitet habe.

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