Montag, 20. Dezember 2010

Die Vier Jahreszeiten

Wenn ich in Deutschland morgens ziemlich früh noch wach war, dann war es wie heute. Ich sitze auf der Bank vor meinem Haus und genieße das Leben. Alles ist hell aber die Sonne ist noch nicht zu sehen. Es ist noch ein bisschen kühl draußen aber man kann es aushalten. Die Wolken werden vom Wind über das Blau des Himmels getrieben und man weiß es würde ein schöner Tag werden. Sommer ist meine Lieblingsjahreszeit. Das ich an der Ostseeküste aufgewachsen bin hat sicher etwas damit zu tun.  
Als ich zum Bus gehe ist es ziemlich warm. Ich ziehe mir den Pullover aus um nicht zu schwitzen. Der Frühling ist endlich da. Die ersten warmen Tage sind die schönsten. Warum weiß ich auch nicht. Vielleicht weil man seit dem letzten Sommer nur darauf gewartet hat. Als ich auf den Bus warte drehe ich mein Gesicht in Richtung Sonne. Es ist schön die Wärme auf der Haut zu spüren. Wie ich das vermisst habe.  
Etwas später sitze ich wieder auf der selben Bank. Diesmal habe ich eine Jacke an. Sie ist geöffnet und der kühle Wind streichelt mein Gesicht. Die Sonne spiegelt sich golden in den Pfützen bevor sie das letzte Mal aufleuchtet und hinter den Bergen versinkt. Es ist Herbst. Vor mir putzt eine Frau ihre Fenster. Ein alter Mann gräbt das kleine Blumenbeet daneben um. Das letzte Mal bevor der Winter beginnt und es zu kalt wird um draußen sich draußen aufzuhalten. Die Welt ist schön, wie sie so daliegt in allen erdenklichen Farben.
Nachts. Die Sonne ist längst versunken und ich stehe am Simón-Bolívar-Platz. Die Beleuchtung des Weihnachtsbaumes spiegelt sich im Eis. Die Kolumbianer laufen Schlittschuh mitten im Zentrum Bogotás. All die Lichter und die Musik lassen mich an vergange Weihnachtsfeste denken.
Und daran wie schnell das Jahr vergangen ist.

P.S.: Allen die noch nie in Bogotá waren sei gesagt, dass es sich um ein und denselben Tag im Dezember handelt. Alle anderen werden mir mit Sicherheit nur zustimmen können.

Montag, 6. Dezember 2010

Straßenmusik

Sie stehen alle ordentlich in einer Reihe. Als wäre es dir Norm für sie. Etwas anderes wird von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Wahrscheinlich wäre es auch unangenehm wenn man lauter Kreise laufen müsste um sie zu passieren. Acht sind es insgesamt und einige sind schon ziemlich alt, die jüngsten zählen nicht mehr als zwei, drei, vielleicht vier Jahre. Aber das ist normal hier. Nichts außergewöhnliches in einem Land des politischen Südens.
Von irgendwoher kommt ein lauter Knall wie von einem Feuerwerkskörper. Man spürt fast das Beben der Erde unter den Füßen. Zwei von ihnen beginnen mit ihrer Musik. Als wäre der Krach ihr Signal gewesen. Eine der Passanten erschreckt sich deutlich sichtbar. Die betagte Frau blickt um sich und geht schnell weiter. Alle gehen schnell weiter. Keiner bleibt stehen um auch nur eine Minute zu lauschen. Den meisten gefällt die Musik offensichtlich nicht. Ehrlich gesagt, ich mag es auch nicht besonders. In Deutschen Großstädten gibt es weniger davon. Zumindest ist das mein Eindruck. Und auch wenn es keinem hier besonders gefällt wird es doch akzeptiert. Wenn man einen Hut sucht um etwas Geld hinein zu werfen wird man nicht fündig. Mit Sicherheit würde hier auch keiner spenden wollen. Wahscheinlich würde es eher komisch anmuten einigen Münzen herzugeben.
Mitten am Tag ist es eigentlich auch nicht besonders unangenehm. Das Großstadtleben macht genug Lärm um ihre Musik ein bisschen zu übertönen. Viel schlimmer wenn man im Bett liegt und sie plötzlich irgendwo in der Nähe anfangen zu spielen. Manchmal auf dem Parkplatz vor meiner Wohnung.
Geht es nur mir so oder ist dieses Gedudel immer das Gleiche. Mit einigen Veränderungen aber im Grunde sind kaum Unterschiede zu merken. Wahrscheinlich ist mein Ohr auch einfach nicht geeignet die Variationen zu erkennen. Vielleicht lerne ich es eines Tages noch.
Von den acht hat jetzt auch noch ein dritter angefangen. So viele auf einmal ist schon fast ungewöhnlich. Vielleicht fühlt er sich herausgefordert von den anderen beiden. Man findest sie überall in der Stadt. Weiße, Schwarze eigentlich in jeder erdenklichen Couleur.
Plötzlich lehnt sich jemand aus dem Fenster gegenüber. Er scheint offensichtlich der Besitzer eines kleinen Schwarzen zu sein. Sie alle haben ihre Besitzer hier irgendwo in der Nähe.
Nachdem er auf seinen Schlüssel gedrückt hat gibt das Auto endlich Ruhe. Kurz darauf sind die Alarmanlagen der anderen beiden auch still.
Ich lehne mich zurück, widme mich wieder meiner Aufgabe und warte nur darauf, dass die Großstadtmusik, der Sirenenlärm sein Konzert von neuem beginnt. Vielleicht beim nächsten Donnerschlag.

Samstag, 20. November 2010

Über's Bloggen

Das ich in den letzten zwei Monaten zwei Einträge veröffentlicht habe kann mir nicht gerade als Schreibwut ausgelegt werden. Die Frage warum ich in der letzten Zeit nichts gebloggt habe kann ich auch nicht wirklich beantworten.
Die meisten Freiwilligen fangen an, schreiben die erste Jahreshälfte jede Menge, und in den folgenden sechs Monaten kommt dann noch ein Eintrag mit der Entschuldigung, dass das Leben zur Routine geworden ist. Es gibt nichts Neues mehr zu berichten.
Bei mir ist eigentlich jede Menge in den letzten Monaten passiert. Andererseits war es nicht soviel, dass es mich davon hätte abhalten können darüber zu berichten.
Über das warum habe ich mir deshalb eine ganze Weile den Kopf zerbrochen. Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen, dass man schlicht und einfach die Lust verliert. Am Anfang habe ich immer noch bei Facebook nachgeschaut, was meine Freunde in Deutschland so treiben, hatte regelmäßig Gespräche mit meiner Familie und den Daheimgebliebenen. Jetzt ist es deutlich weniger geworden. Wenn ich sage, dass ich mehr arbeite und hier meine Freunde hab, dann wäre das nur die halbe Wahrheit. Deutschland interessiert mich einfach nicht mehr, ist die andere Hälfte. Natürlich sind das nicht die Menschen, die mir in meinem Leben wichtig geworden sind. Die mich begleitet und zu dem gemacht haben, was ich jetzt bin. Aber der deutsche Staat, die Politik oder das Wirtschaftswachstum erscheinen mir mittlerweile Weltfremd. Wenn die Innenminister über ein Bleiberecht für leistungsstarke minderjährige Geduldete nachdenken kommt mir das menschenverachtend vor. Wenn der deutsche Außenminister schlechter Englisch spricht als ein duchschnittlicher Gymnasiast kann die einzige Erklärung sein, dass er von Politikerfreunden ernannt wurde. Und wenn jemand nationale Interessen - mit dem vollen Bewusstsein, dass Menschen in anderen Ländern darunter leiden werden - vertritt, frag ich mich wann bei ihm die Realität auf der Strecke geblieben ist.
Ein Jahr in Kolumbien verändert die Sicht auf vieles. Dass ich anfangen muss Gründe zu suchen warum ich nach Deutschland zurück will, hätte ich in den ersten drei Monaten nicht gedacht. Neben Familie, Freunden und Bekannten wären da noch die praktischeren Duschköpfe, einige Lebensmittel und danach fällt es schon schwer.
Vielleicht geht es den meisten Freiwilligen so wie mir. Einem wird klar, dass man soviel bloggen kann wie man will. Es versteht einen doch keiner ohne hier gewesen zu sein. Die Lust über all das Neue zu berichten versiegt. Die Deutschen können auch weiter die Nachrichten lesen und denken, dass es ihnen schlecht geht.
Das größte Geschenk in meinem Leben ist wahrscheinlich trotzdem meine Deutsche Staatsbürgerschaft. Garantiert sie doch kostenlosen Zugang zu Bildung und ein (Über-)Leben ohne Sorgen. Das es mir gut geht und anderen deshalb schlecht ist ein Gedanke, den man niemals ganz zu Ende denkt. Würde es doch bedeuten Kosequenzen ziehen zu müssen.
Das Bloggen werde ich trotzdem nicht aufgeben. Vielleicht weil ich zu wissen glaube, dass es Menschen gibt die mich verstehen.

Samstag, 23. Oktober 2010

Die zweite Ankunft

Als ich das erste Mal nach Bogotá gekommen bin war ich 20 Jahre jung, jemand der keine Ahnung hat was ihn erwartet. Ich bin 23:12 angekommen. In der rechten oberen Ecke meines Handys konnte ich eine kleine 5 vor dem Doppelpunkt erkennen. Ich verstand kein Wort von dem was die Frau am Flughafen von mir wollte. An das was danach geschah kann ich mich kaum noch erinnern. Ich fuhr im Taxi durch eine riesige Stadt. Der Mann neben mir redete Englisch mit einem kolumbianischen Akzent. Wir fuhren lange, passierten große, gut ausgebaute Straßen, entfernten uns immer weiter vom Flughafen. Die Straßen wurden kleiner und enger. Als wir angekommen waren schleppte ich meine beiden Taschen die Treppen hoch, sagte dass ich keinen Hunger hätte und ging schlafen.
Die nächsten Tage verbrachte ich lesend im Park, im Camp für die Neuangekommenen und anschliessend halbtags im Spanischkurs. Die Nachmittage war ich mit anderen Freiwilligen unterwegs. Freiwillig sind wir alle, bis jetzt haben wir ja auch noch nicht eine Stunde gearbeitet.
In den ersten Arbeitswochen schlafe ich viel. Die Luft ist deutlich dünner als gewohnt und das tägliche Lernpensum erledigt den Rest.
Als ich etwa neun Monate später zum zweiten Mal nach Bogotá komme, ist alles anders. Diesmal bin ich 21 Jahre alt. Mein Handy ist ein anderes aber zeigt die gleiche Uhrzeit, wie die der anderen. Ich weiß was mich erwartet.
Ich trage meine beiden Taschen aus dem kleinen Bus, der uns bis zum Hauptgebäude der Fundación gefahren hat und nur fünf Minuten später sitze ich mit den vier Kollegenen, mit denen ich in den letzten drei Monaten gemeinsam ein Team gebildet habe an einem Tisch. Wir warten auf unsere Chefin.
4 1/2 Stunden später verlassen wir das Büro wieder. Diesmal habe ich alles verstanden was gesagt wurde. Die folgenden zwei Wochen verbringe ich nicht lesend im Park oder im Spanischkurs.
Ich bin zehn bis elf Stunden täglich an meinen Stuhl gefesselt. Vor mir, auf dem Bildschirm ist anfangs ein 35 Seiten langes Dokument geöffnet. In den nächsten zwei Wochen sollten zwei Dokumente und insgesamt etwa 70 Seiten dazu kommen. Meine Kollegen und ich schreiben den ganzen Tag. Ich muss immer wieder mein Wörterbuch zu Rate ziehen, bin ein bisschen langsamer als die anderes aber gleiche es aus, indem ich morgens früher komme.
In Melgar, der größten Gemeinde in der ich gearbeitet habe, ist ein riesiger Berg an Informationen zusammengekommen. Über 70 Interviews, Systematisationen von teilnehmenden Beobachtungen in über 20 Bars und Diskotheken, all das, was wir in den Wohnvierteln gesehen haben, 10 Workshops mit Kinder, 5 Workshops mit Müttern, 2 Diskussionsgruppen mit sozialen Aktueren, der politische Rahmen für die Jahre 2008-2011 und und und. Jetzt müssen wir die Informationen miteinander verknüpfen. Systematisieren, reflektieren, kommentieren und anschließend unsere Empfehlungen abgegeben. Das Bürgermeisteramt, die Schulen und das kolumbianische Familienministerium sind gespannt auf die Endfassung. Alles muss perfekt sein.
Ich stehe morgens halb sieben auf und bin um acht im Büro die anderen kommen zwischen neun und zehn. Zwischen 18:30 und 19:00 müssen wir gehen. Die Sekretärin will los und hat den Schlüssel für die Tür. Im Bus nach Hause lese ich mir die Ergebnisse anderer, ähnlicher Untersuchungen durch um vielleicht noch eine Sichtweise oder Schlussfolgerung zu entdecken, die wir bisserher vergessen haben. Abends mache ich kaum etwas. Manchmal telefonieren wir um uns abzusprechen, was noch fehlt. Meist sitze ich einfach vor dem Computer gucke Filme oder bin bei Facebook. Das zweite Profil nutze ich immer noch. Ich schreibe mit einem Franzosen. Reicher alter Mann, der eine Finca in Nilo hat und dort die Mädchen aus Santa Marta manchmal mit hinnimmt. Wenn die Fundación sich sicher ist, dass es sich dabei auch um Minderjährige handelt, wird der Fall an eine Sondereinheit von Interpol weitergereicht. Die ermitteln dann weiter. Nach 22 Jahren verfügt die Fundación über das nötige Netzwerk für solche Aktionen.
Vor etwa zwei Monaten konnte das erste Mal ein wichtiger Erfolg in der Bekämpfung von internationalem Sextourismus in Kolumbien erziehlt werden. In Cartagena wurde ein Italiener zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Fundación Renacer hat den Jungen der überlebte nach dem Vorfall betreut. Die Einzelheiten von der uns die Direktorin erzählte, sind so unangenehm, dass ich sie lieber nicht aufschreiben will.
Im März sollen Projekte in Melgar starten. Die Fundación ist in Gesprächen mit der Europäischen Union und einem der Geldgeber, der auch unsere Arbeit in den letzten drei Monaten mitfinanziert hat. Ich bin gespannt welche Entwicklungen der Sextourismus mit minderjährigen Opfern dort nimmt.
Ach ja, und freiwillig bin ich noch immer, vielleicht gerade weil ich schon mehr als eine Stunde gearbeitet habe.

Dienstag, 28. September 2010

Strategiewechsel

Am 26.09.2010 um 11:12 Uhr war es soweit. Wir wussten uns nicht mehr anders zu helfen. Facebook musste herhalten.
Wir sind seit einer Woche in Chinaute und die magere Ausbeute sind drei Taxifahrer, die nebenberuflich als Zuhälter arbeiten, ein Verwalter einer Finca (Wochenendhaus), der möglicherweise Minderjährige beschaffen kann, eine Finca in der jedes Wochenende Swingerpartys veranstaltet werden. Ob an den Partys unter achtzehn Jährige teilnehmen müssen wir noch herausfinden. Mit Minderjährige selbst haben wir noch nicht gesprochen.
Strategiewechsel. Wir haben den Vorteil mit zwei Teams in Chinauta zu arbeiten. Die Frauen kümmern sich um die Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser, Bürgermeisteramt und Polizei, die Workshops mit Müttern und Schülern und was es sonst noch gibt. Ein Kollege und ich, wir sind Klienten. Immer auf der Suche nach den jungen Mädchen. 15, 16,17 oder vielleicht auch 14 aber bloß nicht älter. Vorher musste das alles ein und das selbe Team erledigen. Die Situation in Chinauta ist anders als alles was wir bis jetzt kennen. Es gibt keinen Dorfkern. Die nächste Stadt ist nur zehn Minuten im Auto entfernt. Hier findet man nicht so schnell Minderjährige in der Straße. Der Grund ist einfach. Weil es nur eine Straße gibt. Wir beide haben also angefangen 10 Stunden am Tag bei Facebook online zu sein. Nach acht Monaten Erfahrung habe ich nur zu oft die Geschichten von den Kindern gehört, die über das Internet ihre Klienten suchen.
Am 26.09. hieß es dann also "Willkommen bei Facebook". Bis 3:00 nachts habe ich Fotos hochgeladen, Freunde gesucht, das Profil von Felix Peters bearbeitet bis es halbwegs echt aussieht.


12 Stunden später habe ich über 80 Freunde, 5 Fotoalben, bin auf 19 Fotos verlinkt und meine Pinnwand ist ausreichend voll mit lauter Einträgen von Leuten aus Deutschland und Kolumbien, Dingen die ich mag und anderen Kleinigkeiten.
Also ging es los. Gruppen von Schulen in Chinauta und Fusa suchen und Jungs und Mädels, die ihre Schule mögen als Freunde hinzufügen. Alle Mitglieder aus Gruppen wie "die Mädchen aus Fusa", "hübsche Mädchen aus Fusa" oder "Bildhübsche Fusanerinnen". So viel wie möglich. Um 6 Uhr abends wird die Euphorie das erste Mal gestoppt. Facebook fängt an mich immer öfter zu fragen ob ich das Mädchen oder den Jungen auch wirklich kenne. Also ein Gang runterschalten und warten. Nach den ersten Angenommenen Freundschafteinladungen fange ich an mit den Leuten zu chatten.

"Hallo, wie geht's?"
"Gut, gut... und dir?"
"Auch. Du bist aus Fusa oder"
"Ja, und du?"
"Oh, ich bin Österreicher... aber zur Zeit in Kolumbien"
"Was machst du hier?"
"Reisen, Spanisch und die Menschen dieses wunderbaren Landes (kennen)lernen"
"Cool... und wo bist du gerade?"
"In Bogotá... ich will bald nach Fusa, da soll es wärmer sein?!"
"Ja, ist viel wärmer als Bogotá"
"Cool... und sind alle Mädchen in Fusa so hübsch wie du ;-)?"
"Hahaha... nicht alle aber die meisten"
"..."
"aber du siehst auch nicht schlecht aus"
"Danke... und was machst du so?"
"Geh noch zur Schule"
"Wie alt bist du denn?"
"sechszehn und du"
"einundzwanzig... entschuldige die Frage: Hast du eigentlich einen Freund?"
"nö"
"jemand so hinreißendes wie du ohne Freund???"
"Hat vor drei Monaten schluss gemacht"
"Scheint nicht zu wissen was er da verpasst ;-)"
"hahaha... muss los, gibt Abendbrot bei mir"
"Okay... wir reden später???!"
"Ja... ciao"
"ciao"
Carolina ist offline 

 Mein Kollege hat das selbe Mädchen als Freundin bei Facebook und schreibt fleissig mit ihr. Weniger an ihrem Äußeren, mehr an ihrer Persönlichkeit interessiert.
Als sie das nächste Mal online ist kann nur er sie sehen und mit ihr schreiben. Für Felix Peters ist sie offline. Anscheinend hat sie ihn in eine Gruppe für ausländische Lustmolche verbannt. Gut für sie. Schlecht für unsere Arbeit.
Also fangen wir an mit der Nächsten zu chatten.

Samstag, 11. September 2010

Freitag, 10.09.2010

Es ist 22:34. Wir sitzen in einer kleinen Bar. Aus den Lautsprecherboxen der Jukebox dringt laute Musik. Was die aufgeregten Stimmen am Nachbartisch sagen ist trotzdem noch zu verstehen. Immer wieder gucken die drei Frauen und deren zwei Begleiter zu uns rüber. Wir fühlen uns ein bisschen unwohl. Etwa wie ein Fünftklässler der beim Abschreiben erwischt wurde.
10 Stunden früher: Die Sonne brennt vom Himmel. Im Haus der Kultur ist es stickend heiß. Ich muss immer wieder an den Pool direkt vor unserem Bungalow denken. Zweiundzwanzig Frauengesichter blicken uns erwartungsvoll an. Die Mütter profitieren von einem staatlichen Programm, das ihnen etwa 140.000 Pesos monatlich zur Unterstützung ihrer Kinder bereitstellt. Es ist zu bemerken wer aus ehrlichem Interesse gekommen ist und wer nur da ist um seine Pflicht zu erfüllen. Wir erklären wer wir sind, woher wir kommen und was wir in Nilo machen.Wie immer beginnen wir mit dem 30 minütigen Video der Fundación. Fünf Geschichten von Minderjährigen, denen das selbe passiert ist wie den geschätzten 35.000 Kindern und Jugendlichen die sich in Kolumbien noch immer in kommerzieller sexueller Ausbeutung befinden. Das Desinteresse, fast schon Abneigung einer der Teilnehmenden bleibt uns nicht verborgen. Nach etwa 25 Workshops dieser Art wissen wir ihre Mimik und Gestik zu deuten. Die junge Frau, nicht älter als dreißig ist mit Sicherheit in irgendeiner Form direkt Betroffene von dem was wir zeigen und zu erklären versuchen.
Sie hat sich mit ihrem Leben so eingerichtet. Sicher nicht freiwillig aber wer einmal daran gewöhnt ist will keine Hilfe. Aus Zeitmangel haben wir es aufgegeben jedem helfen zu wollen.

Etwa 5 Minuten später bezahlen die fünf ihre Rechnung. Eine der Frauen kennen wir von heute Nachmittag. Sie bestätigt mit ihrer Anwesenheit, was wir schon wussten. Die beiden Männer sind offensichtlich Klienten. Kleidung, Körperbau und Verhalten lässt auf Militärs aus der Schule zur Ausbildung professioneller Soldaten schließen. Die anderen beiden kennen wir gut. Maria* und ihre Mutter. In den letzten Wochen hatten wir immer wieder Kontakt mit der 17 Jährigen und ihrem einzigen noch lebenden Elternteil. Bis heute Abend haben die beiden geglaubt wir würden hier Urlaub machen. Sie haben bereitwillig mit uns über alles geredet. Nicht immer die Wahrheit aber zumindest waren sie nicht so verschlossen wie andere. Was ihnen jetzt erzählt wurde war neu für sie.
Keiner aus der Gruppe weiß uns einzuordnen. Es fällt das Wort Polizei. Dass das unrealistisch ist, sollte ihnen nach kurzem Nachdenken klar werden. Kurz darauf verlassen die Männer und deren käufliche Begleiterinnen ihren Tisch. Maria und ihre Mutter gucken stur geradeaus. Keine der beiden winkt uns zum Abschied wie sonst.
Wir bleiben noch etwa eine Stunde sitzen. Es tut sich nichts und wir machen uns auf den Weg zu unserem Bugalow. Das unangenehme Gefühl will nicht verschwinden. Uns war klar, dass wir mit einem Workshop dieser Art mitten im Zentrum Nilos die verdeckten Ermittlungen vollends begraben können. Das es so schnell geht hätten wir nicht gedacht.

*Name von der Redaktion geändert

Dienstag, 31. August 2010

Es wird immer kleiner...

Wir sind jetzt in Nilo angekommen. Eigentlich nicht jetzt sondern schon vor 10 Tagen. Dass ich mir solange Zeit gelassen hab mal wieder was zu veröffentlichen will ich auf die Tatsache schieben, dass wir fast ausschließlich mit Schreibarbeit beschäftigt sind.
Unter der Woche ist hier eigentlich nichts los und weil uns ein großer Teil der Systematisation der Arbeit in Melgar fehlt haben wir uns erstmal darauf gestürzt. Mein Spanisch ist natürlich nach wie vor nicht perfekt. Es reicht allerdings, dass ich mich aktiv an diesem Prozess beteiligen kann. Meine Bericht werden zwar immer nochmal korrigiert aber das dauert nicht länger als 15 Minuten.
Nilo ist ziemlich klein. Etwa 6000 Einwohner haben hier ihr Zuhause. Dazu kommt noch eine Militärschule mit etwa 1600 Männern die professionelle Soldaten werden wollen. Die Arbeit hier ist nochmal ein Stück anders. Jeder kennt jeden und nach einer Woche hatte man auch vom "alemán" (span. Deutscher) gehört. Wir arbeiten noch raffinierter, wenn ich das so sagen darf. Wir nehmen an jeder sozialen Aktivität teil, bei der sich die Gelegenheit bietet mit Jugendlichen aus dem Dorf zu sprechen. Am Wochenende haben wir uns mit 3 Mädels, einem Zuhälter und einem weiteren Mann (wahrscheinlich Klient der Minderjährigen) in der Finca des letztgenannten getroffen. Nach einigen unbedeutenden Wortwechseln haben wir die Pferde aufgesattelt und sind losgeritten. 
Manchmal fühle' ich mich wie in einem Film. 
Der Zuhälter passt allerdings nicht in das typische Profil. Wenn man sich einen kräftigen Mann Mitte 40 in langem, schwarzem Mantel vorstellt liegt man ziemlich falsch. Der Junge ist gerade mal 18 Jahre alt, selbst Opfer und seine Mutter sagt ihm immer noch wann er zu Hause sein soll.

An dieser Stelle ein Dank an meine Eltern, für all die Möglichkeiten die ich in meiner Jugend hatte.
Ansonsten ist es ziemlich ruhig. Eigentlich der perfekte Ort um ein Wochenendhaus zu haben. Die Landschaft ist beeindruckend schön und das Wort Verkehrslärm existiert hier mit Sicherheit nicht.
Morgen haben wir ein voraussichtlich letztes Treffen mit verschiedenen Akteuren staatlicher Organisationen aus Melgar. Das Ministerium für Kinder und Familie und die Polizei haben kalte Füße bekommen und wollen, dass wir Anzeigen erstatten. Die Angst der verschiedenen Institutionen ist begründet. Seit etwa 10 Jahren zeigt sich das Phänomen der kommerziellen sexuellen Ausbeutung Minderjähriger in Melgar und bis jetzt wurde nichts getan. Ist nicht besonders schön für die Lokalregierung wenn das auf einmal publik gemacht wird. Wir werden uns wohl auf die Schweigepflicht berufen und sagen, dass der Anwalt der Fundación für solche Sachen zuständig ist. Hoffentlich funktioniert's.

Nilos Umgebung um 5 Uhr Nachmittags

Dienstag, 17. August 2010

Melgar II

"Tochter, such dir einen Soldaten!" Das ist der Rat den Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben. Sicher nicht in der ganzen Welt und auch nicht in allen Teilen Kolumbiens aber zumindest in Melgar. Hier gibt es nichts. Wochenendtourismus ist nahezu das einzige von dem die über 30.000 Einwohner leben. Wenn wir Workshops mit Müttern in den ärmeren Viertel veranstalten wollen und fragen welcher Tag der Beste ist, bekommen wir fast immer die selbe Antwort. Jeder, bloß nicht am Wochenende. Am Wochenende kann man auf der Straße Filme, Eis, Getränke und Essen verkaufen oder in den Fincas der Reichen putzen und kochen. Das einzige Einkommen vieler Familien.
Wir sind jetzt fertig mit unserer Diagnose in Melgar und die Ergebnisse sind besorgniserregend. Es gibt keinerlei Programme für die Opfer von sexueller kommerzieller Ausbeutung, die Polizei arbeitet in den Augen des Bürgermeisteramtes hart, wenn man die Kinder in den Schulen oder die Mütter auf der Straße fragt, was die Polizei macht, bekommt man auch nach längerem bohren nur eine kurze Antwort. "Nichts!"
Das Ministerium für Kinder und Familie und die Polizei haben keinen einzigen registrierten Fall von kommerzieller sexueller Ausbeutung Minderjähriger, die Anzahl der im Krankenhaus mit Infektionen von sexuell übertragbaren Krankheiten Behandelten hat bei den Minderjährigen und Soldaten zwei Ziffern zuviel um sich in einem normalen Rahmen zu bewegen. Einen Zusammenhang will trotzdem niemand sehen.
Soldaten sind hier die besten "Kunden". Wenn man am Wochenende durch die Straßen zieht sieht man viele der Streitkräfte in Begleitung von ein oder zwei Frauen. Geschätzte 90 Prozent der weiblichen Begleiterinnen werden dafür auf die eine oder andere Art bezahlt.
Seit einiger Zeit gibt es in Kolumbien ein neues Jugendschutzgesetz. Viele Mütter und Väter sehen darin einen der Gründe warum die Kinder in Prostitution enden. Wie soll man Töchter und Söhne erziehen, wenn man sie nicht mehr schlagen darf? Da fehlen uns die Wort. Eine der vielen Empfehlungen für die öffentlichen Einrichtungen hier wird es sicher sein Mütter und Väter bezüglich Erziehung von Kindern fortzubilden.
Minderjährigen sollte es laut Gesetz eigentlich unmöglich sein ohne Begleitung der Eltern nachts ein Hotel zu betreten. Die Klienten und Jugendlichen haben trotzdem in keinem der etwa 150 Vorhandenen ein Problem, ein Zimmer zu bekommen.

Ich hatte dank eines "weltwärts"-Seminars die Möglichkeit ein Wochenende auszuspannen. Es war interessant mit den vielen Neuangekommen zu sprechen.
Am Mittwochabend werden wir uns in die nächste Gemeinde aufmachen. Von Nilo aus werden wir dann noch eine Gesprächsgruppe mit in Melgar stationierten, amerikanischen Soldaten vorbereiten. Das einzige noch fehlende Puzzleteil.
Wie viele weitere Mädchen bis dahin dem Rat ihrer Eltern gefolgt sind lässt sich schwer sagen. Das es viele sind, bezweifel ich nicht.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Melgar I

Ich bin bereits seit 12 Tagen in Melgar, eine Gemeinde mit einem Dorf etwa 2,5 Stunden westlich von Bogotá. Die Internetverbindung ist ein langsam funktionierendes UMTS-Modem, das zu allem Übel auch noch kaputt war.
Die Arbeit hier ist anders, Melgar hat nicht mehr als 30.000 Einwohner und etwa 50.000 Betten für Touristen die übers Wochenende kommen. Dass ich hier sein kann, ist für mich wirklich gut. Einerseits als Wertschätzung der Arbeit die ich in Bogotá machen konnte und andererseits nicht zu vergleichen. Das Dorf! ist ziemlich klein und alles funktioniert hier ein bisschen anders. In Melgar gibt es nichts außer Hitze, Pools und Party. Viele Bogotaner haben hier eine Wochenendhaus und kommen gelegentlich um der „Kälte“ Bogotás zu entfliehen und ein bisschen auszuspannen. Außerdem gibt es eine Militärbasis, die größte Kolumbiens und hier machen auch jede Menge Ausländer ihre Ausbildung. Mit einem Sold der Army Of The United States lebt es sich ziemlich gut in Kolumbien und diese Möglichkeit wird zu Genüge von den „Gringos“ ausgenutzt. Das Level der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen hier ist beeindruckend. Wenn man die Taxifahrer fragt was die Leute so sehr nach Melgar zieht sagt fast jeder „Sexo, Trago y Rumba“ (span.: Sex, Drinks und Party).
In kurzen Worten, Melgar kommt mir vor wie der wilde Westen. Hier kann man alles machen und niemand sagt was. Während Wahlen oder z.B. zum Tag der Unabhängigkeit (20. Juli) ist es hier verboten alkoholhaltige Getränke zu verkaufen oder an öffentlichen Orten zu konsumieren. Trotzdem haben viele Leute Bier und Likör getrunken. Ein alter Mann hat sich lautstark über die Soldaten, die den Marsch für den nächsten Tag übten, lustig gemacht und auf all das gab es keinerlei Reaktion. Auch was die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen angeht ist man sich im Bürgermeisteramt durchaus der Situation bewusst und kennt die Orte, gemacht wird trotzdem nichts. Es gibt zwar jede Menge Initiativen, die sich allerdings alle auf den Aspekt der Prävention beziehen. Professionelle Hilfe für die Opfer haben wir in den letzten 12 Tagen nicht entdeckt. In der Fundación Renacer machen die Kinder und Jugendlichen normalerweise einen Prozess von einer Dauer von 18 Monaten. Dafür fehlen hier in Melgar einfach die personellen und finanziellen Kapazitäten.
Ansonsten geht es mir ziemlich gut mit meiner Arbeit. Ich habe wenig Freizeit da wir 7 Tagen die Woche etwa 10-12 Stunden arbeiten und den Rest der Zeit damit beschäftigt sind unsere Arbeit zu planen und uns selbst vor allem bezüglich verschiedener sexuell übertragbarer Krankheiten fortzubilden. Die Arbeit hier ist wesentlich umfassender als in Bogotá, da wir nicht nur mit den Betroffenen reden und unsere Beobachtungen verschiedener Orte systematisieren sondern uns ebenfalls an Institutionen und Offizielle in den verschiedenen Wohnvierteln annähern. Wir führen Gesprächsgruppen mit sozialen Akteuren, Polizisten und Mitarbeitern einiger nationaler Ministerien durch, sprechen mit Müttern und organisieren Workshops in Schulen. Alles in Allem sehr abwechslungsreich und umfassend. Ich bin ein weiteres Mal ziemlich froh über die Möglichkeiten die sich hier bieten.
Von der Arbeit habe ich leider keine Bilder, das Haus in dem ich noch bis Freitag wohne, sollt ihr trotzdem sehen. Ab diesem Wochenende werden wir in Hotels übernachten. Alle drei Tage wechseln wir das Hotel mit der Absicht möglichst viel von den verschiedenen Bediensteten zu erfahren.



Dienstag, 20. Juli 2010

Beschreibung der Untersuchung der kommerziellen sexuellen Ausbeutung Minderjähriger (KSAM) in Bogotá (Kolumbien) in Verbindung mit Tourismus und Reisen aus Sicht eines Ausländers

Hierbei handelt es sich um Ausschnitte meiner Erfahrungen in Bogotá. Zur Zeit sind wir gerade in 5 Gemeinden etwa 2-3 Stunden außerhalb gelegen tätig. Wie es mir hier so ergeht werde ich in den nächsten Tagen mal schreiben. 

Als ich mir darüber Gedanken machte, wie es sein wird für ein Jahr in Bogotá (Kolumbien) zu leben, kreisten meine Gedanken sehr intensiv um meine Arbeit. Die Idee des Regierungsprogramms welches meinen Aufenthalt zu einem großen Teil finanziert (“weltwärts”) ist, dass ich in einem sozialen Projekt, akkreditiert durch die deutsche Regierung, arbeite. Kurz vor meiner Ausreise stand fest, dass ich in der Fundación Renacer arbeiten werde. Eine Organisation die sich der Bekämpfung von sexueller kommerzieller Ausbeutung Minderjähriger verschrieben hat.
Dies war vollkommen neu für mich. In Deutschland habe ich bereits mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, allerdings in einem anderen Kontext. Zudem habe ich Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen, welche die Krisenszenarien ihrer Länder verlassen um sich erneut in ungeschützten Situationen zu befinden. Meine neue Arbeit ist eine Mischung der beiden vorherigen: Minderjährige in verletzlichen Situationen.
Meine persönlichen Motivationen waren nicht nur eine neue Sprache und ein Land des politischen Südens kennen zu lernen sondern auch den Bewohnern im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen.
Die ersten Monate meines Aufenthaltes arbeitete ich in zwei verschiedenen Aufnahmezentren für Kinder und Jugendliche um deren Situation besser verstehen zu können. Hierbei handelte es sich um einen interessanten, wenngleich sehr beschränkten Einblick in die Welt der KSAM. Hatte ich doch die Möglichkeit die Opfer, jedoch nicht die konkreten Situationen der Ausbeutung kennen zu lernen.
Nach einiger Zeit bot mir die Fundación Renacer die Möglichkeit der Mitarbeit in einem Projekt mit deutlich anders gelagertem Aufgabenfeld an.
Das Team, welches zur Aufgabe hatte die KSAM in Bogotá zu untersuchen sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass sich viele der Ausländer in sehr geschlossene Gruppen befinden. Viele der Touristen und Reisenden, die in die Hauptstadt Kolumbiens kommen, tun dies in der Überzeugung, dass es sich beim Großteil der Bevölkerung um Diebe und Drogenverkäufer handelt. Mit meinem ganz offensichtlich nicht Südamerikanischen Phänotyp und meinen Kenntnissen der Englischen und Deutschen Sprache, habe ich die Möglichkeit deutlich leichteren Zugang zu diesen Gruppen zu finden.
Ich stellte mir zu Recht vor, dass ich in dieser Arbeit die Möglichkeit habe mehr über das Leben der jungen Menschen in Kolumbien zu erfahren.
Ich verließ die sichere Umgebung meiner kolumbianischen Familie, der “ruhigen” Arbeit im Ambulatorio und aller Orte in Bogotá die ich bis zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt habe.
Bogotá als Stadt ist ganz anders als alle großen Städte Deutschlands oder Europas die ich bis zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt habe. Die Armut erreicht Dimensionen, die man in den Agglomerationsräumen des politischen Nordens als solche nicht beobachten kann. Der Unterschied zwischen den Reichsten und Ärmsten Teilen der Bevölkerung ist auf unangenehme Art und Weise beeindruckend. Dieser Unterschied ist in allen Bereichen des Lebens sichtbar. Häuser, Essen und Kleidung sind unterschiedlich und was mir vor allem in Bezug auf die Untersuchung der KSAM stark aufgefallen ist, sind die Unterschiede zwischen Diskotheken, Bars und anderen Orten der Unterhaltung. In der Zona Rosa, vergleichbar mit den Kölner Ringen, kostet das gleiche Bier wie im Süden den drei- bis vierfachen Preis.
Die Möglichkeiten verhältnismäßig billig Partys und Drogen zu finden ist einer der Gründe warum vor allem viele Europäer und Nordamerikaner die Stadt aufsuchen.
Trotzdem sollte man auch die Anziehungskraft vieler touristischer Attraktionen wie Museen und zum Beispiel Monserrate nicht unterschätzen. Bogotá ist nicht nur eine Stadt mit großen Problemen sondern wirkt auch wie ein Magnet auf Leute die kommen um Geschäfte zu machen; in vielerlei Hinsicht ein Zentrum der Entwicklung. In Bezug auf meine Erfahrungen mit (Geschäfts-)Reisenden und Touristen kann ich bestätigen, dass deutlich mehr Personen nach Bogotá kommen um zu arbeiten oder Geschäfte zu machen, als Touristen, die lediglich die Absicht haben etwas Neues kennen zu lernen und zu entspannen.
Nach drei Monaten Feldforschung bin ich überzeugt, das der Großteil der Ausländer in Bogotá nicht anreist um Sex (mit Minderjährigen) zu suchen. Allerdings muss man sagen, dass viele die sich bietenden Möglichkeiten wahrnehmen und Geschlechtsverkehr mit Opfern sexueller kommerzieller Ausbeutung außerhalb ihres Landes haben. Da, wo sie sich in sicherer Anonymität wissen.
In Bogotá, vor allem in der Schwulenszene wird der Jugend große Beachtung geschenkt. Es existieren z. B. Bars und Diskotheken mit ermäßigtem Eintritt für Personen unter 21 Jahren. Aufgrund der Nähe der (Schwulen-)Szene zur Prostitution von Jungen und Männern (nahezu Verschmelzung in einigen Teilen Bogotás), überträgt sich diese Beachtung auch auf die kommerzielle sexuelle Ausbeutung. Im Allgemeinen sind die Klienten nicht pädophil (Pädophilie charakterisiert sich vor allem über drei Merkmale: 1. “Das sexuelle Interesse gilt Kindern, die sich vor der Pubertät im Sinne der Geschlechtsreifung befinden. [2.] Das sexuelle Interesse ist dabei primär, das heißt ausschließlich bzw. überwiegend und ursprünglich auf Kinder ausgerichtet.
[3.] Das sexuelle Interesse ist zeitlich überdauernd.”*), wobei das große Vorhandensein und der einfache Zugang zum “Frischfleisch” als wesentliche Faktoren genannt werden können, die die KSAM fördern/erleichtern.
Des Weiteren habe ich das Gefühl, dass eine breite Akzeptanz der Prostitution in weiten Teilen der Gesellschaft besteht. Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Personen über 18 Jahren scheint nichts Ungewöhnliches zu sein. Bis zur Akzeptanz der KSAM ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
Viele der Kinder und Jugendlichen enden als Opfer von Prostitution aufgrund des Fehlens von Perspektiven und Arbeit. Wir haben immer wieder mit Jugendlichen gesprochen, die ihr Studium selbst finanzieren müssen (in Kolumbien gibt es kaum öffentliche Hochschulen) oder dem Druck in den eigenen Familien einen finanziellen Beitrag zu leisten aufgrund verschiedener Faktoren nicht standhalten können. Zudem kommt ein bemerkenswerter hoher Prozentsatz an Personen, die bereits eigene Kinder besitzen.
Die bereits oben erwähnten bestehenden Unterschiede zwischen Arm und Reich sind ebenfalls in der kommerziellen sexuellen Ausbeutung zu beobachten. Oft ist es möglich eine Anzahl von Gründen vorauszusagen warum die Person sich in dieser Situation befindet, wenn man den Ort kennt, in dem sie ausgebeutet wird. Ein 15 Minütiger “Service” kostet zwischen 8.000 und 200.000 Pesos (3 bis etwa 85 Euro) und der Preis spiegelt den späteren Gebrauch des Geldes wieder. Zum einen zu Zwecken der Studienfinanzierung und zum anderen für Drogen wie Marihuana oder Kleber.
Ein anderer Faktor, der die KSAM vereinfacht ist der Fortschritt, den das Internet in den letzten Jahren gemacht hat. Viele der Jugendlichen haben Zugang zu Netz und hier finden sich unzählige Seiten zur Kontaktaufnahme mit den “Kunden” (erstaunlicherweise in vielen Fällen Facebook), dem Austausch pornografischen Materials welches sexuelle Handlungen von oder an Minderjährigen einschließt oder auch sogenannte Webcam Angebote (die zumeist Jugendlichen vollziehen sexuelle Handlungen am eigenen Körper entsprechend der Anweisungen des oft ausländischen Publikums).
An diesem Punkt wurde die Untersuchung der KSAM im Zusammenhang mit Reisen und Tourismus sehr schwer. Die zum Zwecke der Feldforschung eingerichteten Konten auf diversen Kontaktplattformen (z.B. GayRomeo, ManHunt, BogotáGay, Facebook) führten nur selten zu brauchbaren Ergebnissen. Was zu deutlich besseren Ergebnissen und auswertbaren Daten führte war die Suche nach und in Foren und Blogs die sich explizit an die Konsumenten von Prostitution wendeten. Detaillierte Informationen über verschieden Etablissements in der ganzen Stadt wie z.B. Anschrift, Anzahl der vorhandenen Frauen, Preise von Getränken und Services und Tagen und Uhrzeiten an denen man die beste Stimmung finden kann sowie Telefonnummern und Namen von Taxifahrern, die gegen ein Entgelt von meist um die 40.000 Pesos (17 Euro) pro Stunde eine Tour durch die verschiedenen Etablissements mit den Kunden machen sind ein hervorragendes Beispiel für den Austausch und die Verbindung zwischen den Konsumenten in der ganzen Welt. Der schnelle Zuwachs an diesen Formen der KSAM und immer weiter wachsende Austausch an Wissen entspringt dem einfach Grund, dass all dies möglich ist ohne seine Identität preiszugeben.
Während der Arbeit in den Zonen der Prostitution konnten wir immer wieder beobachten, dass mit dem sozialen Status und der speziellen Situation der Opfer bestimmte Probleme einhergehen. Das meiner Meinung nach größte Problem ist die Tatsache, dass viele der Jugendlichen (14-17 Jahre) und Heranwachsenden (18-21 Jahre) ihre Situation nicht als Problem verstehen oder nicht bemerken, dass sie sexuell ausgebeutet werden. Vor allem in der Homosexuellen-Szene kommt es öfter vor, dass die Jugendlichen bei ihren Klienten für 2-4 Wochen wohnen und der Sex mit Kleidung, technischen Geräten (z.B. Handys, IPods) und Einladungen in Szenebars oder Diskotheken bezahlt wird. Das es sich hierbei um einen Prozess der Verstraßung handelt entzieht sich der Kenntnis der Opfer. Personen, die ihre Situation nicht als Problem oder gefährlich ansehen lässt sich nur schwer helfen.
Des weiteren bewerten einige Mädchen/junge Frauen ihr Leben als “gut” aufgrund der Tatsache, dass sie in sehr teuren, exklusiven Etablissements “arbeiten”. Hierbei bekamen wir immer wieder zu hören, dass es sich um einen zeitlich begrenzten Job handelt und lediglich dazu dient das Studium zu finanzieren. Tatsache ist jedoch, dass nach dem Bachelor irgendwann der Master kommt und anschließend die Jobmöglichkeiten in Kolumbien immer noch begrenzt sind. Wenn man erstmal in dieser Situation ist und sich selbst nicht als Opfer, das Hilfe benötigt betrachtet wird man immer wieder in alte Muster zurückfallen (z.B. wenn man Arbeit hat, dass Einkommen aber nicht ausreicht, um sich den VW oder das schöne Appartement zu leisten).
Ein weiteres Problem, welches vor allem in den Etablissements niedrigerer sozialer Klassen existiert ist das Risiko Krankheiten, die durch Körperflüssigkeiten oder sexuelle Kontakte übertragen werden zu erwerben. Das Fehlen von ausreichendem Schutz und regelmäßigen ärztlichen Kontrollen sind hierbei als ausschlaggebend zu nennen.
Während unserer Arbeit im Feld sah ich mich immer wieder mit persönlichen oder ethischen Problemen konfrontiert. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich die Möglichkeit die Problematik der kommerziellen sexuellen Ausbeutung so intensiv in der Realität kennen zu lernen. Diese Konfrontation, gepaart mit der Tatsache, dass man zumindest während der verdeckten Arbeit keine Hilfe anbieten kann waren deutlich schwieriger (zu verarbeiten) als die eigentliche Arbeit im Feld.
Ein in der Praxis immer wieder auftretendes ethisches Problem ist, dass wir Minderjährige zum Trinken stark alkoholhaltiger Getränke einladen mussten. In vielen der Etablissements wird ein Minimalkonsum vorgeschrieben (z.B. eine halbe Flasche Rum oder Wodka). Für uns eine gute Möglichkeit die jüngste(n) der vorhandenen Personen einzuladen.
Andererseits habe ich verhältnismäßig viel über die Stadt im Allgemeinen und die KSAM in Bogotá im Speziellen gelernt. Dieses Wissen erleichtert es mir die Einzelsituation der Minderjährigen, welche sich in den Tageszentren oder Heimen der Fundación Renacer aufhalten zu verstehen und somit weiter offen zu sein.
Etwas anderes, das vor allem für mich als Ausländer interessant ist, war der Austausch mit anderen Menschen aus Europa oder Nordamerika. Der Vergleich zwischen verschiedenen persönlichen Motivationen komplettierte meine Wahrnehmung von Stadt und Menschen.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Situationen in denen sich die Opfer sexueller kommerzieller Ausbeutung befinden gravierend sind. Das Fehlen von Alternativen und die unmittelbaren Risiken (neben psychologischen Faktoren wie Traumatisierung, sinkendes/fehlendes Selbstwertgefühl,...) machen die Situation äußerst gefährlich für Minderjährige. Der Tatsache geschuldet, dass die Arten der KSAM und die Einzelsituationen der Opfer eine große Bandbreite aufweisen ist es schwer eine Generalstrategie zur Bekämpfung kommerzieller sexueller Ausbeutung Minderjähriger zu entwickeln. In Bezug auf den Sextourismus im Allgemeinen ist es wichtig sich in Erinnerung zu rufen, dass solange es Nachfrage gibt auch das Angebot existieren wird. Was die Auslöschung der Nachfrage empfehlenswerter macht. Die spezielle Situation Bogotás, dass deutlich mehr Geschäftsreisende als Touristen die Stadt besuchen, erfordert jedoch eine stärkere Bekämpfung des Angebots und eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die Problematik. Erfolgreich sind aber mit Sicherheit nur Strategien die eine Zusammenarbeit von Sendeländern und Empfangsländern der Touristen vorsehen.
Ich persönlich bin froh darüber in einem Projekt tätig zu sein, dass nicht nur Symptome behandelt, sondern versucht die Grundlage für die erfolgreiche Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung kommerzieller sexueller Ausbeutung mit minderjährigen Opfern im Kontext von Reisen und Tourismus zu schaffen.

*aus Wikipedia der freien Enzyklopädie

Montag, 21. Juni 2010

Wahlen, Korruption und merkwürdige Umfragen

Aufgrund eines bewegenden Ereignisses hier in Kolumbien sehe ich mich gezwungen innerhalb sehr kurzer Zeit einen weiteren Blogeintrag zu verfassen.
Am 30. Mai 2010 fand die erste Runde der Präsidentschaftswahlen für die Legislaturperiode 2010 bis 2014 statt. Da es sich im Gegensatz zur deutschen parlamentarischen Demokratie bei Kolumbien um eine Präsidialrepublik handelt ist das Amt des Präsidenten mit vergleichsweise großer Macht und starkem Einfluss ausgestattet. Die Befugnisse sind also weniger mit denen des dahingeschiedenen Horst Köhler zu vergleichen, sondern haben eher das Format derer eines Barack Obamas. Kein Wunder also, dass man sich besonders viel Mühe gibt Staatsoberhaupt in Kolumbien zu werden.
Die geltende kolumbianische Verfassung, am 5. Juli 1991 per Volksentscheid verabschiedet, gilt als eine der fortschrittlichsten der Welt und teilt die Mächte - wie in Deutschland - in Legislative (gesetzgebene), Exekutive (ausführende) und Judicative (Recht sprechende).
In der Praxis ist es jedoch so, dass aufgrund von "persönlichen" Abhängigkeitsbeziehungen und der immer wieder zu beobachtenden Durchsetzung partikularer Interessen der Kongress nahezu gelähmt ist. Bei den unterschiedlichen Gerichtshöfen existieren Kompetenzüberschneidungen und aufgrund dieser unklaren Zuständigkeiten ist auch das Justizsystem in Teilen nicht in der Lage zu agieren. Zu allem kommt eine ordentliche Portion Nepotismus und Korruption in allen Teilen der Staatsverwaltung und plötzlich ist der Präsident mächtiger als in der Theorie gewollt.
Dem dahinscheidenen Staatsoberhaupt Álvaro Uribe ist so eine Verfassungsänderung gelungen, die seine Wiederwahl 2006 erlaubte. Die konservativen Abgeordneten Yidis Medina gab im Nachhinein zwar zu bestochen worden zu sein, was ihr einen 4 Jährigen Gefängnissaufenthalt bescherte, angetastet wurde das einmal Beschlossene trotzdem nicht.
Jetzt war es also wieder soweit. Eine neue Wahl zum Amt des Präsidenten stand an und das erste Mal in der Geschichte unserer Erde hatte ein grüner Politiker die Möglichkeit Staatsoberhaupt zu werden. Antanas Mockus, bei den Wahlen 2006 deutlich am mit 62,2 Prozent in der ersten Runde wiedergewählten Uribe gescheitert, stellte sich auch dieses Jahr wieder zur Wahl zum Präsidenten. Seine Umfragewerte entwickelten sich im Laufe der Zeit und es sah so aus als würde es zu einem Kopf an Kopf Rennen zwischen Antanas Mockus und Juan Manuel Santos, dem Ziehsohn Uribes werden. Mockus, vor allem populär durch seine transparente Haushaltspolitik als Bürgermeister von Bogotá und dem Ziel Bildung zur Priorität in Kolumbien zu machen wurde zum Hoffnungsträger auf einen Wechsel nach Jahren der Korruption und willkürlicher Militärgewalt unter Präsident Uribe.
Bei den letzten Umfragen am 20.,21. und 22. Mai von verschiedenen Instituten veröffentlicht, wird es eindeutig. Wenige Tage vor der Wahl hat der Uribista Juan Manuel Santos einen hauchdünnen Vorsprung vor Antanas Mockus. Aufgrund der Tatsache dass keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit in der ersten Runde gewinnt, rechnen alle mit einem zweiten Wahlgang.



In den Abendstunden des 30.05.2010 kam dann die Ernüchterung für die vielen Anhänger Mockus'. Juan Manuel Santos wurde zwar nicht sofort Präsident hatte aber mit 46,7 Prozent der Stimmen einen komfortablen Vorsprung auf den an zweiter Stelle mit 21,5 Prozent weit abgeschlagenen Mockus.

An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Exkurs zu den Präsidentschaftswahlen 2008 in den USA und den Bundestagswahlen 2009 in Deutschland machen. Hierbei sollen vor allem die Umfragen im Vorfeld der Wahlen interessieren.

Am 1. November 2008 erziehlte Barack Obama in den Umfragen 50,4 Prozent der Stimmen und lag somit fast sieben Prozent vor John McCain (43,6 %).
Am 2. November sahen die Umfragen folgendermaßen aus:
Obama: 50,7 % und McCain: 44,3 %.
Am 3. November: Obama führt mit 51,6 % vor McCain (44,3 %).
Bei der letzten Umfrage am 4. November haben sich Obama's Werte noch ein bisschen verbessert. Sie liegen jetzt bei 52,1 % gegenüber den 44,5 % McCain's stellt das einen ausreichenden Vorsprung um die Wahl zu gewinnen dar.
Kurz danach wird der Wahlausgang bekannt. 52,92 Prozent für den nun amtierenden Barack Obama. John McCain muss sich mit 45,67 Prozent geschlagen geben.
Die Umfragen spiegeln äußerst genau die später bei der Wahl erziehlten Stimmenanteile wider.

In Deutschland sah es im Jahr 2009 folgendermaßen aus:


Auch hier kann man sehen, dass die Umfrageergebnisse verblüffend nah am tatsächlichen Ausgang der Wahl liegen.

Warum also dieser extreme Unterschied zwischen Umfragen und Wahlausgang in Kolumbien. Entweder die Institute in Kolumbien taugen absolut garnichts oder auch dieses Mal wurden die Wähler in Kolumbien Opfer von Korruption.
Bereits bei den Wahlen im Jahr 2006 sind Stimmen, dass der Ausgang verfassungswiedrig zu Gunsten Uribes beinflusst wurde, laut geworden.

Es sollte also zu einer zweiten Runde der Wahl kommen. Ausgetragen am 20. Juni 2010.
Um es kurz zu machen: es kam, wie es kommen musste. Antanas Mockus, Leuchtfeuer im stürmenden Meer der Korruption Kolumbiens ging mit 27,5 Prozent kläglich unter. Mit ihm versank die Aussicht auf den Aufbau eines kolumbianischen Rechtsstaats in den nächsten vier Jahren. Juan Manuel Santos gewann mit 68,9 Prozent der Stimmen und Kolumbien darf weitere Jahre der Falsos Positivos*, Korruption und Politik Uribes erleben.
Die Hoffnung auf eine von Weitsichtigkeit und Zukunftsorientierung geprägte Politik darf 2014 wohl wieder ausgepackt werden.
Dann, wenn wieder Wahlprogramme geschrieben und Brieftaschen gezückt werden.


*"Auf jeden Guerilla-Kämpfer, egal ob tot oder lebendig gefangen genommen, ist einer geheimen Armeedirektive zufolge ein Kopfgeld von umgerechnet 1300 Euro ausgesetzt. Dies führte dazu, dass bis zu 3000 Unschuldige ermordet und als gefallene Guerilla-Kämpfer ausgegeben wurden, in dem man ihnen beispielsweise einfach FARC-Uniformen angezogen hatte." (Aus Wikipedia der freien Enzyklopädie)
Diese Armeedirektive wurde vom damaligen Verteidigungsminister Juan Manuel Santos unterzeichnet. Erstaunlich war, dass besonders vor den Weihnachtsfeiertagen die Anzahl der ermordeten FARC-Mitglieder stieg. Dies hängt wohl damit zusammen, dass es zu den 1300 Euro auch noch ein paar zusätzliche freie Tage gab. Wer will zwischen Weihnachten und Neujahr nicht bei der Familie sein? Ein paar Unschuldige Tote mehr spielen dabei auch keine Rolle.

Der Focus hat Ende 2009 einen Artikel zum Thema der Falsos Positivos verfasst - Klicken um zum Artikel zu gelangen

Freitag, 18. Juni 2010

Lang ist es her...

Dass ich mich in den letzten Wochen nicht gemeldet hab, möchte ich mal mit dem Bau eines Hauses vergleichen. Bevor es so richtig losgehen kann muss man erstmal ein bisschen sparen. Jeden Monat Freunde und Angehörige über den eigenen Kontostand zu informieren ist weniger interessant. Wenn allerdings der Grundstein gelegt wird, dann will man jeden anrufen.
Ich habe es mir in der letzten Zeit gespart etwas zu schreiben... ;-)
Das soll nicht heißen, dass nichts passiert ist, ich war einfach nur damit beschäftigt Grundlagen zu legen und zu festigen, was bereits besteht.
Die Investigación hier in Bogotá haben wir in den letzten Tagen des verregneten Mais erfolgreich zu Ende gebracht. Aus der gesamten Zeit der Feldforschung könnte ich mittlerweile jede Menge lustige, traurige, bewegende Anekdoten erzählen. Ich habe mich allerdings darauf beschränkt meinen Abschlussbericht eher sachlich zu halten. Eine deutsche Übersetzung desselben sollte hier bald folgen.
Zur Zeit ist es so, dass ich mich in einer Phase des Wartens und Vorbereitens befinde. Hierbei handelt es sich weniger um den kolumbianischen Advent sondern vielmehr um die Fortsetzung der Investigación in zwei in der Nähe von Bogotá liegenden Dörfern. Für mich ist meine Teilnahme daran in zweierlei Hinsicht toll. Erstens zeigt es mir, dass meine Arbeit wirklich wertgeschätzt wird. Immerhin ist das Ganze mit einem nicht unerheblichen finanziellen Aufwand für meine Arbeitgeber verbunden. Auf der anderen Seite ist es so, dass ich dadurch die Möglichkeit erhalte mal so richtig und nicht nur für ein verlängertes Wochenende aus Bogotá rauszukommen. Es wird angenehm sein dem Verkehrschaos hier ein Weilchen entfliehen zu können und außerdem ziehe ich nach 5 Monaten Bogotá ein bisschen Hitze und Pool der "Kälte"* hier vor.
Nach einer Busfahrt von ca. 2 Stunden befindet man sich zwischen 2000 und 2400 Metern tiefer und es ist gleich 20 Grad wärmer. Auf der Hinfahrt bedeutet das, dass man bis zur Ankunft im Hotelzimmer ordentlich in langen Hosen und Schuhen schwitzt, auf der Rückfahrt friert man dafür umso mehr in Shorts und Flip-Flops.
Die Idee ist, dass wir uns von Mittwoch bis Sonntag in Melgar und Girardot aufhalten. Die anderen Tage sind wir dann in Bogotá um finanzielle Einzelheiten zu klären oder uns der liegengebliebenen Schreibarbeit zu widmen.
Wie genau das alles aussehen wird werde ich hoffentlich am Montag erfahren. Da soll die Capacitación (span. Befähigung) stattfinden. Allerdings ist das nicht das erste Mal, sie wurde bereits zweimal verschoben.
Ansonsten geht es mir abgesehen von einigen Kleinigkeiten eigentlich ganz gut. Der Eurowechselkurs ist gerade so schlecht, dass ich die Auswirkungen in meinem Portemonnaie** zu spüren bekomme und die WM macht natürlich nur halbsoviel Spaß wenn man morgens 6:30 Uhr allein vor dem Fernseher sitzt. Aber diese kleinen Unannehmlichkeiten nehme ich gerne in Kauf.
Urlaub habe ich immer noch nicht so richtig gemacht. Zum einen fehlt die Zeit. Ich will die Möglichkeiten, welche sich zur Zeit in der Fundación bieten einfach nicht verschenken und zum anderen bin ich weniger liquide als gedacht.
Aber was soll's... so lange ich mich auf den nächsten Tag freuen kann spielt das wohl kaum eine Rolle.

P.S.: Ich lese zur Zeit ein Buch. Bei der Lektüre ist mir eine lustige Eigenheit des Spanischen aufgefallen. Das Wort "esposas" benutzt man für zwei Dinge: Handschellen und Ehefrauen.

*Zur Erinnerung, Bogotá liegt in ca. 2500 Metern Höhe. Hier wird es selten wärmer als 20 Grad, zudem ist gerade soetwas wie Regenzeit/Winter. Das wissen die Bogotaner selber nicht so genau. Ab 18:30 ist es dunkel und ohne Sonne wird es hier ziemlich schnell kalt.

**Wenn ich ehrlich bin habe ich mein Portemonnaie nie dabei wenn ich das Haus verlasse. Zum einen brauche ich den meisten Kram nicht und mein Geld verteile ich lieber auf verschiedene Taschen und die Socken. Im Falle eines Überfalls greift man dann in seine Hose und verliert nicht zuviel von diesem lebensnotwendigen Übel.

Sonntag, 9. Mai 2010

Es sind die ganzen kleinen Dinge

Als morgens mein Wecker klingelt, weiß ich für einen Moment nicht wo ich bin. Das Bett fühlte sich nicht an wie gewöhnlich und das Gedudel konnte unmöglich von meinem Handy kommen. Nachdem ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben habe weiß ich wieder was los ist. Gestern haben wir nur bis kurz vor 23:00 Uhr gearbeitet. Da keiner von uns in den letzten Wochen abends besonders viel Zeit hatte um etwas mit Freunden zu machen sind wir danach noch in eine Bar gegangen. Merkwürdig wenn man an einem Samstag etwas trinken kann ohne über Prostitution sprechen zu müssen. Nachts gibt es keine Busse und wir waren soweit im Norden, dass mich eine Taxifahrt gute 25.000 Pesos gekostet hätte. Das Angebot in der Wohnung einer Kollegin zu übernachten nahm ich ohne Umschweife dankbar an. Ich bin nicht grad mit Geld gesegnet in diesen Tagen.
Jetzt lag ich also im Bett ihres kleinen Bruders. Er war übers Wochenende irgendwo in Kolumbien unterwegs. Wo genau und warum hatte ich nicht verstanden.
Als ich den Wecker ausschalten will sehe ich, dass es tatsächlich mein Handy ist. Es ist neu. Mein Altes wurde mir vor 3 Tagen oder besser Nächten geklaut. Auf der Suche nach Minderjährigen, Ausländern oder anderem, das irgendwie von Interesse sein konnte war es spät geworden. Wir wollten grad nach Hause. Auf dem Weg zur Septima* kam uns ein Paar entgegen. Beide höchstens Siebzehn. Plötzlich hielt mir der Junge mit zitternder Hand ein Messer vors Gesicht. Ich war nicht allein, sondern in weiblicher Begleitung. Nicht wissend wie schnell meine Partnerin laufen konnte zog ich es vor ruhig zu bleiben. 25 Sekunden später, um zwei Handys und 30.000 Pesos erleichtert waren wir wieder allein.
Ich hatte mich grad an meine Weckermelodie gewöhnt.
Als ich nun endgültig wach bin steh' ich auf um das Badezimmer zu suchen. Hübsche Wohnung. Aus der Küche weht mir der Geruch von Waffeln, heißem Kaffee und Rührei entgegen. Kurze Zeit später sitze ich frisch geduscht an einem großen Glastisch, durch das Fenster strahlt die Sonne und aus den kleinen IPod-Boxen dringt die Musik von Manu Chao. Das Leben ist so angenehm.
Als wir gehen fällt mir die ungewöhnliche Form und Größe des Haustürschlüssels auf. Ich frage was es damit auf sich hat und erhalte eine knappe Erklärung. Die Haustür hat ein Sicherheitsschloss und ist ohne Schlüssel oder Gewalt nicht zu öffnen.
Als wir das Tor passieren um auf die ruhige Staße zu treten erkundige ich mich naiv, ob die Wachen vor dem Eingang für die etwa 50 Appartments nicht ausreichen. In diesem Land geben manche Menschen ihre Stimme einem Präsidentschaftskandidaten für ein warmes Mittagessen. Da kann man auch private Security für etwas bezahlen. Das genügt mir als Antwort. In dem Moment erinnere ich mich, dass man für meine Tür zwei Schlüssel simultan benutzen muss. Trotz der Wachen vor dem Tor.
Auf dem kurzen Weg zur Boyacá** werden wir zweimal nach Kleingeld gefragt. Beim ersten Mal gebe ich etwas. Beim zweiten Mal habe ich keine Münzen mehr.
Als ich schließlich im Bus nach Hause sitze, spüre ich den warmen Wind auf meiner Haut. Ich betrachte gedankenverloren das Bild auf meinem Wechselgeld und denke an das neue Handy und die 2 Schlüssel in meiner Tasche.
Es sind die ganzen kleinen Dinge, die die wirklich großen Unterschiede machen. 

* eine der Hauptverkehrsstraßen im Osten Bogotás die von Norden nach Süden verläuft
** viel befahrene Straße im Westen der Stadt, verläuft in Nord-Süd Richtung

Donnerstag, 29. April 2010

Die Uhr tickt... erstes Viertel um.

Da wir im Rahmen der "welwärts" Förderung einige Berichte verfassen müssen und diese vielleicht nicht nur für das BMZ interessant sind, möchte ich an dieser Stelle den ersten von drei Zwischenberichten veröffentlichen. Er bietet nicht besonders viel Stoff zum Nachdenken und ist auch nicht gespickt von kleinen Anekdoten, stellt aber vielleicht eine interessante Zusammenfassung der letzten drei Monate dar.

Vor etwa drei Monaten, in der Zeit kurz vor meiner Ausreise versuchte ich mich stets daran zu erinnern meine Erwartungen nicht zu hoch zu stecken. Da die Projektbeschreibung der Fundación Renacer mehr als dürftig war wusste ich nur grob was meine Aufgabe für das nächste Jahr sein sollte. Ich ging davon aus mich mit der Betreuung von einigen Kindern abfinden zu müssen. Nicht das, was ich wollte aber mit Sicherheit das Gebiet, in dem ich in den letzten Jahren in Deutschland eine Menge Erfahrung gesammelt hatte. Außerdem hoffte ich meine Spanischkenntnisse schnell soweit auszubauen, dass eine Unterhaltung mit Einheimischen möglich ist.
In den ersten Wochen und Monaten kommt mir als Ausgleich zum fehlenden Spanisch die gewissenhafte Vorbereitung des ICJA (Entsendeorganisation) zugute. Vor allem von theoretischen Einheiten, zum Beispiel über das Eisbergmodell der Kulturen (nach Robert Kohls), konnte ich profitieren. Missverständnisse möglichst schnell aus dem Weg zu räumen oder versuchen den anderen zu verstehen, ohne sich auf den selben kulturellen Hintergrund berufen zu können, waren unter anderem die größten Herausforderungen in diesen Tagen.
Nach Beendigung des Spanischstunden wusste ich immerhin mehr als Nichts. Von meinem Ziel war ich allerdings noch sehr weit entfernt. 
Anschließend sollte es mit der Arbeit in den Projekten losgehen. Meine Erwartungen waren äußerst gering und das Interesse ein weiteres Jahr mit Kinder und Jugendlichen zu arbeiten hielt sich deutlich in Grenzen. Nicht, dass es keinen Spaß macht aber ich dachte mir, es wäre doch eigentlich mal an der Zeit etwas anderes kennen zu lernen. In meinen ersten Tagen in der Fundación Renacer wurde mir schnell klar warum die Projektbeschreibung so dürftig war. Es gab einfach zu viel über das man hätte berichten können. Die Fundación Renacer hat es sich seit 1988 zur Aufgabe gemacht kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in ganz Kolumbien zu bekämpfen. Zu den drei großen Aufgabenbereichen gehören: Prävention (z.B. Aufklärung von Touristen in beliebten Urlaubszielen), umfassende Betreuung der Opfer (z.B. Heimunterbringung und Therapie) und Untersuchung des Sachverhaltes (z.B. allg. Untersuchungen zu Opferzahlen oder auch konkretes wie: auf welche Art geschieht Kontaktaufnahme, in welchen Clubs und Bars findet Prostitution von Minderjährigen statt,...).
Z. Z. werden verschiedene Programme in den Städten Bogotá, Cartagena, Barranquilla und Arauca entwickelt und durchgeführt. Bei der Fülle an verschiedenen Aufgabenbereichen und Projekten ist es schwer auf einer A4-Seite konkret zu werden.
Im Grunde kann ich sagen, dass die Fundación mich mit offenen Armen empfangen hat. Auch wenn ich mich nur langsam auf diese offenen Arme zubewegen wollte. Die Idee war, dass ich die ersten drei Wochen in einem Heim zur permanenten Unterbringung von minderjährigen Opfern arbeitete. Hier gab es eine andere Freiwillige die mich in die Arbeit einführen konnte. Zudem schätze ich die Möglichkeit drei weitere Wochen zum Ausbau meiner Sprachkenntnisse zu haben bevor es ernst werden sollte.
Die Arbeit in diesen Wochen war weniger interessant. Das hingegen, was mir die Kindern erzählen konnten weckte meine Aufmerksamkeit. Ich war viel damit beschäftigt einfach nur an Talleres (Unterrichtseinheit zur Vermittlung von Sach- und Orientierungswissen) teilzunehmen und grundlegende Abläufe kennen zu lernen.
Im Anschluss an diese Wochen begann ich meine eigentliche Arbeit im Ambulatorio. Hier leben die Kindern nicht ständig sondern kommen nur tagsüber um an Talleres teilzunehmen, zu essen und nicht den Risiken ihres Wohnviertels oder der Straße ausgesetzt zu sein. Die Koordinatorin ist eine fähige Frau, die mich innerhalb kürzester Zeit in die Tagesabläufe einzubinden wusste. Meine Aufgaben waren es Talleres zu begleiten oder selbst durchzuführen. Da mein Interesse mich immer wieder dazu anhielt nach weiteren Herausforderungen zu suchen, fragte ich in welchen Bereichen ich außerdem tätig werden könnte. Neben den Workshops bin ich nun für alles verantwortlich, was mit den täglichen Finanzen des Ambulatorio verbunden ist (Abrechnungen schreiben, Bargeld auszahlen, …), besuche die Kinder, die länger nicht mehr da waren einmal wöchentlich in ihren Wohnungen um mit ihnen zu reden und werde außerdem immer stärker in andere administrative Aufgaben eingebunden (wie z.B. das Verwalten und Aktualisieren der Akten der Kinder oder die Dokumentation persönlicher Entwicklungen).
Zur Zeit habe ich das Glück in einem zeitlich begrenzten Projekt mitzuarbeiten, das in Zusammenarbeit mit der Fundación Esperanza und der Unterstützung der kolumbianischen Regierung versucht Sextourismus mit minderjährigen Opfern in Bogotá zu untersuchen. Meine Aufgabe ist es hierbei verdeckt Clubs und Bars aufzusuchen um mit den Jugendlichen, Informanten, Zuhältern oder Touristen Befragungen durchzuführen. Natürlich nicht mit der Absicht meine Identität oder wahren Absichten preiszugeben. Das Team mit dem ich arbeite ist sehr professionell und es macht Spaß neue Methoden in der Praxis kennenzulernen.
Zurückblickend auf die letzten Monate muss ich sagen, dass die Arbeit in der Fundación Renacer deutlich interessanter und vielfältiger ist, als das von mir erwartete und glücklicherweise nicht eingetretene Aufpassen auf Kinder und Jugendliche.
Neben der Arbeit durfte ich natürlich auch jede Menge spannende Erfahrungen machen. Zum Beispiel, dass Familie anders ist als in Deutschland. Die meisten Kinder leben hier bis sie etwa 30 Jahre alt sind bei ihren Eltern. Das kann manchmal deutlich anstrengender sein als das WG-Leben gleich nach dem Abi. Außerdem reicht mein Spanisch mittlerweile aus, um eine normale Unterhaltung zu führen. Da fällt es deutlich leichter in den kolumbianischen Alltag neben Arbeit und Familie einzutauchen. 
Was schade war, ist die Tatsache, dass viele von uns Ausländern und davon will ich mich nicht ausschließen, mit einem falschen Bild nach Kolumbien gekommen sind. Dieses Land hat in seiner Gesamtheit sicher gravierendere Probleme als andere Staaten in Südamerika aber eine Stadt wie Bogotá ist deshalb nicht gefährlicher als Sao Paulo oder Buenos Aires. Der Großteil der Menschen ist freundlich und zeigt ehrliches Interesse an mir als Person und nicht nur an meiner Brieftasche. Natürlich gibt es Viertel, in denen man vor allem Nachts nicht unbedingt allein durch die Straßen gehen sollte aber in den Medien wird ein deutlich übertriebenes Bild gezeichnet. Ein Glück, das ich die Möglichkeit hatte dies mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen.

Freitag, 9. April 2010

Equipo de la Calle

Nachdem der Zielort bestimmt wurde werden als erstes die Frauen losgeschickt. Observation von außen. Wird das Etablissement von Ausländern frequentiert? Wie alt sind die Angestellten? Nicht einfach eine unscheinbare Tür für bis zu 2 Stunden im Auge zu behalten. Wenn die ersten Daten gesammelt wurden wird abgewägt, lohnt es sich das zweite Team loszuschicken oder wäre das eine Verschwendung von Ressourcen. Geld aber vor allem Zeit ist knapp. Nach einer positiven Antwort machen der Ausländer und sein kolumbianischer Partner sich auf den Weg. Manchmal bezahlen die beiden bis zu 60.000 Eintritt, dazu mindestens ein Getränk um nicht aufzufallen. 110.000 Pesos* und 5 Minuten später fragt der Kolumbianer nach den Mädchen. Die Jüngeren bitte. Der Ausländer ist selber jung, ca. 20 Jahre und seit drei Wochen in Kolumbien, macht Urlaub. Er spricht kein Wort Spanisch. Die Kommunikation läuft ausschließlich in Englisch. Der Kolumbianer übersetzt was Angestellte oder die Frauen sagen.
Selten können die beiden unbefangen reden. Das Risiko, dass eine der Bediensteten Englisch versteht ist zu groß. Also wird übersetzt was der Ausländer schon weiß. Sein Spanisch reicht nach fast drei Monaten Kolumbien um einer Konversation zu folgen.
Wenn sich die augenscheinlich Jüngste zu den Beiden gesetzt hat fängt man an zu reden. Woher sie kommt. Wie lang sie schon hier ist. Stellt Fragen über das Etablissement und webt geschickt einige Fakten über die eigene Person ein. Bei Niemandem soll der Anschein erweckt werden eine Befragung durchzuführen. Es ist eine lockere, entspannte Konversation zwischen einer Dienstleisterin und einem möglichen Kunden. Für beide Seiten ist die Situation vollkommen normal. Wenn die Unterhaltung gut läuft fragt der Ausländer ob das Mädchen auch etwas trinken will. Der Kolumbianer übersetzt. Die beiden wollen Zeit gewinnen. Sich möglichst lang dort aufhalten und mit verschiedenen Personen reden. Alles ohne aufzufallen.
Eine halbe Stunde später geht der Ausländer zusammen mit dem Kolumbianer. Ohne Begleitung. Die beiden haben genug gehört und gesehen um sich ein Bild zu machen.
Kontakt zu Nordamerikanern oder Europäern aufzunehmen ist an diesen Orten nicht möglich. Wenn man die Wahl hat mit 30 hübschen Frauen oder einem fetten Ausländer zu reden mutet es merkwürdig an sich für letzteres zu entscheiden. Niemand kommt an diese Orte um mit anderen Männern zu reden.
Für die Befragung von Nicht-Kolumbianern sind die Bars besser geeignet. Das Vorgehen hier ist anders. Nachdem man langsam durch die Straßen geschlendert ist und eine Bar mit vielen Ausländern entdeckt hat stellt man sich davor. Der Kolumbianer raucht eine Zigarette, sein Partner wartet mit ihm. Nebenbei lässt man den Blick über die Tische schweifen. Wo sitzen männliche Ausländer, nicht Schwule, an die nähert man sich anders, ohne Begleitung. Nachdem ein Ort ausgemacht wurde geht der Ausländer meist vor, der Kolumbianer hält sich im Hintergrund. Heilfroh nach 3 Wochen mal wieder jemanden zu treffen, der nicht Kolumbianischen Ursprungs ist werden die neuen Freunde auf einen Drink eingeladen.
Man führt wieder eine lockere Unterhaltung. Diesmal auf Englisch und ohne das Ziel sich ein Bild vom Alter des Gegenüber zu machen. Man will über anderes Reden. Angefangen mit Reisen und Touristenatraktionen, übergeleitet zur Bevölkerung, insbesondere den Frauen endet man beim Thema Prostitution. Der Ausländer hat soetwas noch nie gemacht, würde aber gern und stellt neugierig jede Menge Fragen. Die Kontakaufnahme, Bezahlung, sexuell übertragbare Krankheiten, Arten des Geschlechtsverkehrs, noch bestehende Bindungen mit insbesondere Minderjahrigen und andere Themen werden angesprochen. Mit der Absicht den Gegenüber aus der eigenen Erfahrung erzählen zu lassen, treibt man die Unterhaltung immer weiter voran. Eine ganze Weile danach, wenn nichts mehr von Interesse aus den Gesprächspartnern herauszubekommen ist, verabschiedet man sich und geht.
Zum nächsten Zielort.
Später in der Nacht wird alles schriftlich dokumentiert. Manchmal hören sich die beiden die heimlich aufgenommenen Unterhaltungen nochmal an. Um nichts zu vergessen.
Die gesammelten Informationen werden im Anschluß an eine Regierungsorganisation weitergegeben. Die versucht auf dieser Grundlage neue Wege zur Bekämpfung von Sextourismus speziell mit minderjährigen Opfern zu finden.


*110.000 Kolumbianische Pesos sind etwa 40-45 Euro

Der Titel ist Spanisch und bedeutet "Straßenteam". Als Teil meiner Arbeit für die Fundación Renacer bin ich seit einigen Tagen und bis zum Ende des Projekts (in ca. einem Monat) das einzige ausländische Mitglied dieses Teams. Der Grund hierfür ist einfach. Die Fundación brauchte einen Mann mit europäischem Pass, Phänotyp und Sprachkenntnissen um das Team zu unterstützen. Kein Mitarbeiter der Fundación außer mir erfüllt diese Voraussetzungen.

Montag, 22. März 2010

Ein Tag wie jeder andere...

7:30 Uhr Wecker klingelt... will noch nicht aufstehen... bin müde... kann kaum einen klaren Gedanken fassen.
7:45 Uhr Sollte jetzt wirklich aufstehen. Komm' sonst zu spät zur Arbeit... andererseits ist es nicht so schlimm wenn ich 10 Minuten später da bin.
8:10 Uhr Geduscht und bedeutend wacher bereite ich mir mein Frühstück zu, setze mich an den Esstisch und genieße eine heiße Schokolade mit Cornflakes oder Brötchen und Nutella (was recht ungewöhnlich für Kolumbien ist).
8:30 Uhr Nach dem Zähneputzen und dem Packen meines Rucksacks (Wörterbuch, was zu lesen, ein wenig Geld, Mittagessen, was zu trinken, ggf. meine Sportsachen, ein Pullover) mache ich mich die 400 Meter auf den Weg zum Colectivo (eine Art Kleinbus).
9:02 Uhr Ich komme in Santa Fe an. Das Viertel ist in ganz Kolumbien bekannt für Prostitution und Drogen. Bei Insidern aber auch dafür, dass die Fundación Renacer* (mein Arbeitgeber) dort zwei Ambulatorios unterhält. Eines ist für Kinder von "sehr jung" bis 12 Jahre und das andere für Kinder von 11-17 Jahren. Die Kinder, die in mehr oder weniger intakten Familien (meist nur ein Elternteil) leben kommen morgens oder Nachmittags und besuchen oft noch die Schule.
9:30 Uhr spätestens jetzt sind die ersten Kinder da und müssen irgendwie beschäftigt werden. Meine Arbeit ist hierbei ein Mix aus Kindergarten für ältere Problemkinder, Bildungsarbeit (gelegentlich auf dem niedrigsten Niveau) und Ansprechpartner bei Problemen. Die meisten haben nie gelernt Normen und Regeln zu akzeptieren, was die Arbeit um einiges erschwert.
10:30 Uhr Da eigentlich jeden Tag jemand kommt um mit den Kindern etwas zu machen (Kunst, Musik, Theater, Computer, ...) habe ich gelegentlich Zeit mir Hintergrundwissen über die Arbeit mit (kommerziell) sexuell ausgebeuteten Minderjährigen anzueignen oder mich anderen Aufgaben zu widmen. Zu den anderen Aufgaben zählen Dinge  wie zum Beispiel Abrechnungen machen, die Hefter der Kinder und Jugendlichen (jedes Kind hat einen Hefter in dem mehr oder weniger alles steht was die Fundaión weiß) kontrollieren und ggf. ergänzen oder die zuständige Person auf das Fehlen von Informationen hinweisen, Talleres (span. Mehrz. Werkstatt, die Bildungseinheiten mit den Kindern) vorbereiten, Gruppenkonfrontationen bei Problemen beiwohnen, Einzelgespräche oder Gespräche im Beisein von anderen Lehrkräften, Psychologen oder Sozialarbeitern führen, mit der Koordiantorin reden wie man in bestimmten Situationen reagieren kann und und und
12:10 Uhr Die Kinder sind jetzt mit dem Essen fertig und einige von ihnen müssen in die Schule* gebracht werden. Die Schule liegt etwa 12 Minuten Fußmarsch, vorbei an Prostituierten, Drogendealern, Obdachlosen und Straßenkindern entfernt genau im Herzen Santa Fes.
12:30 Uhr Auf dem Rückweg von der Schule schaue ich meistens noch im anderen Ambulatorio vorbei. Die Kinder sind viel jünger und freuen sich immer einen Ausländer zu sehen, außerdem hole ich meist noch 2 Ältere ab die dort Mittag essen oder es gibt etwas anderes zu klären.
13:00 Uhr Der Nachmittag sieht in der Regel wie der Vormittag aus. Gelegentlich gehen wir noch in irgendeinen Park, ein Museum oder ins Theater. Meist wird das Ganze mit einem Eis kombiniert und stellt eine willkomene Abwechslung für die Kinder dar.
17:00 Uhr Ich verlasse die Arbeit meisten in Begleitung eines oder mehrerer Kinder. Ich kaufe den Kindern ein Busticket, achte darauf das sie auch wirklich einsteigen und gehe zu meinem Bus.
17:45 Uhr An drei Tagen in der Woche mache ich noch Sport in einem Fitnessstudio in der Nähe. Der Park ist ab sechs Uhr geschlossen und deshalb bin ich gezwungen ins Gimnasio (span. Fitnesstudio) zu gehen um zu laufen oder Kraftsport zu machen.
20:30 Uhr Je nach dem ob ich beim Sport war dusche ich mich oder sitze vor dem Computer, lese die Nachrichten, schreibe mit anderen Freiwilligen und in Deutschland Zurückgebliebenen, belese mich zu Themen die meine Arbeit betreffen, gucke Filme, lerne Vokabeln oder unterhalte mich mit meinem Gastvater ...
24:00 Uhr Ärgere ich mich das es schon so spät ist und ich morgen wieder so müde sein werde.
0:31 Uhr Ich schlafe tief und fest und sammle Kraft für einen neuen Tag in Kolumbien.

Die Arbeit gewinnt mit wachsenden Spanischkenntnissen an Reiz, allerdings hoffe ich, mich in den kommenden 10 Monaten auch noch anderen Aufgabenbereichen widmen zu können. Ich hatte ein sehr interessantes Gespräch mit der Koordinatorin der Investigación (span. Untersuchung) und hoffe, dass ich hier vielleicht an 2 Tagen in der Woche tätig werden kann.
Das tolle an der Zeit hier ist, dass ich merke welche Sachen mir im Leben wichtig sind. Laut John Lennon ist Leben das, was passiert, während man geschäftig anderen Dingen nachgeht und ich habe das Gefühl langsam zu wissen, welchen anderen Dingen ich geschäftig nachgehen möchte. Man sieht viel bewegendes, aufrüttelndes hier in Bogotá, als größte Wachstumsregion Südamerikas interessant für die unterschiedlichsten Menschen und alle erdenklichen Formen des Verbrechens und der Armut. Hier gelandet zu sein ist wahrscheinlich das Beste, was mir hätte passieren können. Das Leben und die Arbeit im Projekt tragen deutlich mehr zur Persönlichkeitsentwicklung und zum Verständnis des Lebens bei, als ein früher Studienbeginn es bei mir hätte tun können.


*Fundación Renacer ist eine Nichtregierungsorganisation die seit 1988 mit dem Ziel kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Jungen, Mädchen und Jugendlichen zu verhindern in Kolumbien tätig ist. Sie widmet sich drei großen Aufgabenbereichen um dieses Ziel zu erreichen: Prävention (z.B. Aufklärung von Touristen in beliebten Urlaubszielen), umfassende Betreuung der Opfer (z.B. Heimunterbringung und Therapie) und Untersuchung des Sachverhaltes (z.B. allg. Untersuchungen zu Opferzahlen oder auch konkretes wie: auf welche Art geschieht Kontaktaufnahme, in welchen Clubs und Bars findet Prostitution von Minderjährigen statt,...).
Die konzeptionelle Perspektive und grundlegende Ethik ist die Respektierung, Verteidigung und Förderung der Rechte von Kindern (nach der UN-Kinderrechtskonvention). Z. Z. werden verschiedene Programme in den Städten Bogotá, Cartagena, Barranquilla und Arauca entwickelt und durchgeführt. (offizielle Darstellung der Organisation mit einigen Zusätzen meinerseits)

*Schule in Kolumbien: In Kolumbien gibt es kein 3-gliedriges Schulsystem wie in Deutschland sondern alle besuchen die Schule gemeinsam bis zur 11. Klasse. Ein Schüler hält sich Montags bis Freitags 4 bis 4 1/2 Stunden dort auf. Am Ende des letzten Schuljahres gibt es eine Prüfung und als Abschluss erhält man das sogenannte Bachillerato (span. Abitur). Dieser Abschluss ist natürlich keinesfalls mit dem deutschen Abitur sondern (aufgrund der wenigen Stunden und lediglich 11 Jahre) eher mit der mittleren Reife zu vergleichen. Wenn man allerdings genügend Punkte am Ende erreicht hat (und das nötige Kleingeld besitzt) darf man die Universität besuchen.
Es gibt drei Korridore um die Schule zu besuchen. Morgens von 8:00-12:00 Uhr, Nachmittags von 12:30-17:00 und Abends von 17:00 bis 21:00. Gründe hierfür sind die geringe Anzahl an Schulgebäuden, Lehrkräften und Unterrichtsmaterialien und die Tatsachen das viele tagsüber arbeiten müssen (deshalb die Möglichkeit von 17-21 Uhr).

Dienstag, 2. März 2010

Die Kleine...

...ist gerade mal 14 Jahre jung. Sie heißt Paola und wenn man sie fragt ob sie ihr bisheriges Leben als außergewöhnlich betrachtet sagt sie mit klarer, fester Stimme "Nein". Sie hat viele Freundinnen mit einem ähnlichen Lebenslauf. Sie weiß, dass das ein bisschen an ihrem Viertel liegt. "Aber im Norden passiert sowas auch. Anders. Es ist versteckter" sagt sie. Zwei ihrer Schwestern arbeiten weiter im Norden, bei den Reichen, als Hausmädchen. Die mussten auch Sachen machen, die sie nicht wollten. Aber die Arbeit zu verlieren ist schlimmer.
Weit rausgekommen ist Paola noch nie. Warum auch, Santa Fe, ihr Barrio, ganze zehn mal zehn Blöcke groß hat alles was man braucht. Eine Schule, ihre Freunde und eine ganze Menge kleiner Läden in denen man Cola kaufen kann, Bonbons und andere Sachen, die einen wieder glücklich machen wenn man traurig ist. Zumindest für eine Weile. Was noch in diesen Läden passiert ist, darüber spricht sie nicht gern. Angefangen hat es damit, dass ihre Tante ihr Süßgkeiten angeboten hat. Leckere Süßigkeiten, für die sie in ihren ersten 8 Lebensjahren nie genug Geld hatte. Dafür sollte sie Sachen mit dem Freund ihrer Tante machen. Den Mann hatte sie schon einige Male in der Wohnung ihrer Eltern gesehen. Als sie dann in dem kleinen Raum hinter der Ladentheke waren wollte sie nicht mehr. Er drohte ihr weh zu tun, also machte sie was er von ihr verlangte. Nach dem dritten Mal gab ihre Tante ihr zum ersten Mal Marihuana. Wie man das raucht hat Paola bei ihren Cousins gesehen. Es war gut um zu vergessen. Die Schmerzen und die Erinnerung an das, was sie jetzt immer häufiger machen musste. Ihre Tante wollte, dass sie auch Freundinnen aus der Schule fragte, ob sie mitmachen würden. Mitmachen bei dem, was ihre Tante die "heimlichen Treffen" nannte. Sie war jetzt manchmal zusammen mit ihrer Tante oder einer Freundin in einem Bett mit einem fremden Mann oder dem neuen Freund ihrer Tante.
Viel Geld bekam sie selten für das was sie machen musste, dafür aber jede Menge Drogen. Nicht nur Marihuana. Kleber, Acid, MDMA, Koks und Alkylnitrite hat sie ausprobiert. Alkylnitrite waren dabei am besten bevor sie sich mit den Männern traf und Marihuana rauchte sie oft danach. Den Kleber nahm sie wenn ihr Bauch vor Hunger schmerzte und MDMA oder Koks wenn sie nachts vor Müdigkeit kaum noch stehen konnte. Die Drogen halfen ihr ganz gut. Konzentrieren konnte sie sich nur noch schwer aber in der Schule war sie eh schon eine Ewigkeit nicht mehr. Ob das einer der Lehrer bemerkt? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Und wenn schon, es fehlen ständig Kinder. Gemeldet hat sich nie jemand in der Wohnung ihrer Eltern.
      Mit 13 hat sie dann Johanna kennen gelernt. Johanna arbeitet für eine Gruppe von Menschen, die Kindern wie Paola helfen wollen. Kurz darauf ist Paola in ein Heim umgezogen, ihre Tante hat sie jetzt schon fast ein Jahr nicht mehr gesehen und Drogen nimmt sie auch nicht mehr. Sie darf bald wieder zur Schule in die 6. Klasse gehen. Sie hat eine Menge verpasst aber Schule ist wichtig. Das weiß sie jetzt. Die Chancen eine Arbeit zu bekommen sind in ihrem Land zwar schlecht aber versuchen muss man es wenigstens. Wenn sie groß ist, will sie das selbe machen wie Johanna und Kindern helfen, die das erleben mussten, was ihr Leben 5 Jahre lang zur Hölle machte.

Ungefähr 9.000 km entfernt wächst ein anderes Mädchen auf. Sie ist 14 Jahre alt, wie Paola und auch die jüngste von 4 Geschwistern. Das andere Mädchen geht seit fast 9 Jahren ohne Unterbrechung zur Schule, lernt Querflöte spielen, hat grad ein Theaterstück mit ihrer Klasse einstudiert, ihre Eltern haben beide eine Arbeit, ein Haus und zwei Autos. Einer ihrer Brüder ist gerade in Paola's Land um Erfahrungen zu sammeln und eine Sprache zu lernen.

Er hat es sich ausgesucht für ein Jahr dort zu leben...

Sonntag, 21. Februar 2010

Gib mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, ...

 ...die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich zu ändern vermag, und gib mir die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden. (Friedrich Oetinger)
Ein Zitat, das mir in den letzten Wochen ans Herz gewachsen ist. Nachdem ich den zweiwöchigen Spanischkurs beendet hatte ging es mit der Arbeit los. Für mich war ein Projekt bei der Fundación Renacer vorgesehen. Ziemlich groß, in ganz Kolumbien bekannt und bezüglich der Aufgabenbereiche vielfältig ist die Fundacón eines der ältesten Projekte im Pool des ICYE-Colombia. Nach einem eher weniger informativen Treffen mit der Direktorin der Fundación war es für mich abgemachte Sache, dass ich die ersten drei Wochen in einem Hogar (span.: Heim) arbeiten sollte. In den Hogars leben Kinder und Jugendliche, die direkt von kommerzieller sexueller Ausbeutung betroffen waren. In den meisten Fällen handelt es sich um junge Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen prostituieren mussten. Manchmal ist es die Tatsachen, dass beide Eltern gestorben sind, manchmal liegt es an Arbeitslosigkeit und oft sind es auch einfach fehlende Perspektiven. Die vollständige Fürsorge für Betroffende ist neben Prävention und Erforschung sexueller Ausbeutung von Kindern und Jungendlichen einer der drei Aufgabenbereiche, denen sich die Fundación widment.
Nach meinem Empfinden kann ich sagen, dass die Kinder froh sind nicht mehr auf der Straße oder an den Orten, an denen sie vergewaltigt oder prostituiert wurden leben zu müssen, allerdings ist dieser Prozess nicht immer ganz einfach. In der Regel leben die Kinder für ca. 9 Monate in so einem Hogar und werden in dieser Zeit wieder an ein Leben ohne Drogen, Gewalt und Prostitution gewöhnt. Dabei stellen die Drogen wahrscheinlich das größte Problem dar. Wenn ein elfjähriges Mädchen gelangweilt genug ist, dass es unbedingt Marihuana rauchen oder andere Drogen konsumieren möchte, dann lässt sich schwer etwas dagegen machen. Die Kinder im Heim werden natürlich dazu angehalten das Gelände nicht zu verlassen aber verbieten kann man es ihnen nicht. Wenn jemand abhaut, dann kommt er/sie allerdings meistens wieder zurück. Anders ist es, wenn jemand seine Sachen in einen der schwarzen Müllsäcke packt und geht. Dann kommt er/sie nicht wieder zurück und man kann sich sicher sein, dass das Kind wieder so weiter macht wie es vor der Ankunft im Heim gelebt hat. Das passiert meistens wenn es mal wieder einen Streit gegeben hat. Dann war auch in der Regel ziemlich viel los. Es werden eigentlich grundsätzlich Scheiben eingeschlagen und meistens nimmt sich auch eines der Kinder einige der Scherben um jemanden damit zu bedrohen. Ernsthaft verletzt hat sich allerdings bis jetzt noch keiner. In den drei Wochen, die ich nun in diesem Hogar verbracht habe sind vier Kinder gegangen und zwei gekommen. Ob das ausergewöhnlich viel ist kann ich nicht sagen.

Die Arbeit ist interessant, was damit begründet werden kann, dass ich bis jetzt noch nicht besonders viel mit finanziell sexuell ausgebeuteten Kindern zu tun hatte. Trotzdem ist es nicht direkt das, was ich mir vorgestellt habe. Mein Wunsch war es nicht unbedingt den Englischlehrer und Fußballkumpel für Kinder und Jugendliche zu mimen. Highlights sind dann immer die Momente, in denen wir den normalen Tagesablauf unterbrechen um etwas mehr oder weniger außergewöhnliches zu machen. Das letzte mal war es eine Razzia. Wir haben alles aus dem Haus geholt, alle Zimmer und das gesamte Gelände nach Drogen durchsucht. Natürlich ist das ein ziemlich starker Eingriff in die Privatsphäre der Kinder aber andererseits ist es so, dass keiner der Bewohener besonders viele persönliche Besitztümer hat. Nötig wurde das Ganze weil der Drogenskonsum in der letzten Zeit extrem angestiegen ist. Wirklich gefunden haben wir trotzdem nichts... was auch irgendwie verständlich ist. Wenn man an jeder Ecke Kokain angeboten bekommt, braucht man sich keinen Vorrat anlegen.
Morgen ist mein erster Tag im Ambulatorio. Das ist im Grunde das gleiche, mit dem Unterschied, dass die Kinder nicht dort wohnen sondern nur der Tag über da sind. Das Viertel in dem dieses Ambulatorio untergebracht ist, ist in Bogotá und ganz Kolumbien für Prostitution (auch von Kindern) bekannt und soll nach Aussagen einiger Kolumbianer ziemlich gefährlich sein... das ist mein Wohnviertel aber angeblich auch.
Ein Problem bei der Arbeit hier ist, dass man als junger Mann nicht besonders ernst genommen wird. Viele der Freiwilligen kommen direkt nach der Schule hierher und haben wirklich keinerlei Erfahrungen. Wenn man so etwas noch nie gemacht hat, ist es interessant ein bisschen zu unterrichten oder an irgendwelchen Teambuilding Geschichten erstmal teilzunehmen. Ich empfand die Arbeit bis jetzt eher als Unterforderung.  Ein weiteres Problem ist ganz klar mein Spanisch... immer noch sehr lückenhaft und nur gelegentlich ausreichend um klare Anweisungen zu geben. Meine Hoffnung ist es, spätestens sobald mein Spanisch ausreichend ist den Aufgabenbereich (zumindest teilweise) zu wechseln. Aufgrund der Tatsache, dass die Fundación so groß ist male ich mir gute Chancen aus.
Ansonsten geht es mir ziemlich gut hier in Kolumbien. Von Montag bis Donnerstag habe ich in den letzten Wochen ziemlich wenig unternommen. Das lag eindeutig daran, dass ich morgens zwei Stunden im Bus gesessen habe um zur Arbeit zu kommen und Abends nochmal zwei Stunden um endlich was zu essen. Bei acht Stunden Arbeit bleibt da nicht viel vom Tag. Das wird sich aber zum Glück ab Montag ändern. Die Wochenenden sind gefüllt von viel Schlaf, dem autodidaktischen Studium kommerzieller sexueller Ausbeutung (und deren Folgen für Betroffene) und den Dingen, die junge Menschen sonst so machen - und dabei unterscheidet sich Kolumbien wenig von Deutschland.

Samstag, 13. Februar 2010

33 Fakten (unnützes) Wissen über Kolumbien - Was alles anders ist

1. "El Tiempo" (spanisch für "die Zeit") ist eine Tageszeitung.
2. Die in Deutschland beliebte 0,5 Liter Flasche fasst in Kolumbien 600 ml.
3. In der nicht weniger beliebten 1,5 Liter Flasche sind dafür nur 1365 ml.
4.Wenn man beim Bäcker ein Käsebrötchen kauft, ist der Käse nicht auf dem Brötchen sondern befindet sich darin.
5. In der Regel wird Spanisch gesprochen
6. Die vielen kleinen Busse haben keine Haltestellen sondern halten überall. Wenn man mit dem Bus fahren möchte, muss man nur mit ausgestrecktem Arm mit der Hand wedeln und schon hält der Bus.
7. Fruchtsaft ist IMMER frisch gepresst.
8. Überall stehen Leute die 3 oder mehr Handys haben und gegen ein Entgeld andere telefonieren lassen (viele kleinere Läden bieten diesen Service ebenfalls an). Das wird von allen genutzt weil es billiger ist als mit dem eigenen Handy zu telefonieren.
9. Vor dem Eingang zu meinem Hof steht immer ein Wachmann
10. Mindestens ein Drittel aller Autos auf den Straßen sind Taxis oder Busse.
11. Der Rasen ist dicker, grüner und weicher.
12. Wäsche und Geschirr werden mit kaltem Wasser gewaschen.
13. Militär wird im Inland eingesetzt.
14. Wenn jemand Eier kauft dann sind das meist Packungen mit 30 oder mehr Eiern. Zudem ist Hühnchen sehr beliebt.
15. Es gibt keinen Döner.
16. Arbeitslosogkeit gibt es nur in der Statistik (20 %). Dass jemand zu Hause sitzt und nicht irgendwie (meist mehr oder weniger) legal Geld verdient, gibt es nicht.
17. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist bedeutend größer.
18. Toilettenpapier kommt nach dem Gebrauch grundsätzlich nicht in die Toilette, sondern in den Mülleimer daneben.
19.(Fast) Alle Straßen in (fast) allen größeren Stadten heißen Calle ... oder Carrera ....
20. Filme die in Deutschland ab 16 sind laufen manchmal schon Vormittags im Fernsehen.
21. Abhänig von der letzten Ziffer auf dem Nummernschild darf man in Bogotá in den Zeiten von 6:30 Uhr - 9:00 Uhr und 16:00 Uhr - 20:30 Uhr nur an bestimmten Werktagen sein privates Auto benutzen. Das System nennt sich Pico y Placa und verhindet dass der Verkehr vollständig zum Erliegen kommt.
22. Ich habe bis jetzt nur 4 verschiedene Biermarken entdeckt, die mit deutschem Bier nicht zu vergleichen sind.
23. Die Luft in Bogotá ist dünner.
24.Hier stehen gelegentlich Leute mit ziemlich großen Maschienengewehren vor Banken und in der Altstadt (Präsidentenpalast etc.).
25. Wenn Geld von einem Transporter in die Bank gebracht wird (oder andersrum) hat der Träger des Geldes eine durchgeladene Pistole oder einen Revolver in der gehobenen Hand.
26. Auf dem Personalausweis stehen nicht Adresse, Größe und Augenfarbe, dafür gibt es die Kategorien Fingerabdruck, Geschlecht und Blutgruppe.
27. In die meisten Waschmaschinen tut man die Wäsche von oben und nicht von vorne.
28. Der Mond scheint heller.
28. Geschirr wird nicht im gefüllten Waschbecken gespült, sondern unter dem laufenden Hahn.
29. Die Bewohner Bogotás bekommen den Klimawandel bereits zu spüren und es kommt gelegentlich zu Wasserversorgungsengpässen.
30. Mercedes ist eine beliebte ausländische Marke
31. Obwohl Kaffeland ist der schwarze Kaffe (genannt "Tinto") oft ein nicht besonders leckeres Getränk.
32. Es ist Februar und ich trage gelgentlich nicht mehr als Flip-Flops, eine kurze Hose und ein T-Shirt.
33. Es ist jeden Tag von 6 bis 18:00 Uhr hell und das ändert sich auch nur geringfügig.